Sogar Kylian Mbappé reagierte voller Empörung: «Mein Frankreich schmerzt mich», schrieb der Fussballstar der französischen Nationalelf auf Twitter. Er bezog sich auf den Tod eines 17-Jährigen namens Nahel. Der Teenager und Freizeit-Rugbyspieler aus einer Banlieue-Siedlung in Paris-Nanterre war am Dienstagmorgen mit zwei Kumpels in seinem Sportwagen von einer Motorradpatrouille angehalten worden.
J’ai mal à ma France. 💙🤍💔💔💔
— Kylian Mbappé (@KMbappe) June 28, 2023
Une situation inacceptable.
Tout mes pensées vont pour la famille et les proches de Naël, ce petit ange parti beaucoup trop tôt.
Auf einem Video ist zu sehen, wie ein Polizist sein Gewehr auf den Fahrer am Steuerrad gerichtet hält, während er mit dem Fahrer durch das geöffnete Wagenfenster spricht. Nach kurzer Zeit fährt der gelbe Mercedes brüsk los. Wohl in diesem Moment löst sich aus der Waffe des Polizisten ein Schuss. Etwas weiter kracht der Wagen in eine Leitplanke. Ein Kumpel flieht, der zweite wird festgenommen. Nahel erliegt wenige Minuten später im Beisein der Rettungsmannschaft seiner Schussverletzung.
In ersten Stellungnahmen der Behörden hiess es, die zwei Streifenpolizisten hätten auf Notwehr plädiert. Von einer Notlage sieht man aber nichts auf dem Video, das alsbald auf Internet zirkulierte. Der Anwalt von Nahels Mutter erklärte, der Minderjährige sei «kaltblütig niedergestreckt» worden, ohne dass auf dem verwackelten und tonlosen Video auch nur der Ansatz eines Notwehrargumentes sichtbar sei. Der Tatbestand der vorsätzlichen Tötung sei zweifellos erfüllt.
Der Polizeischütze wurde in Gewahrsam genommen. Eine Untersuchung lautet auf vorsätzliche Tötung. Ermittelt wird auch wegen Befehlsverweigerung. Nahel verfügte dem Vernehmen nach über keinen Fahrausweis und hatte sich der polizeilichen Autorität schon früher mehrmals entzogen.
In den sozialen Medien gehen die Wogen hoch. Auch der Schauspieler Omar Sy oder der Rapper Rohff verlangen restlose Aufklärung.
In der Nacht kam es in Wohnsiedlungen von Nanterre zu heftigen Krawallen. Vermummte steckten Autos und Mülltonnen in Brand; sie errichteten Barrikaden und griffen die Einsatzpolizei mit Wurfgeschossen und Feuerwerk an. Auch ein Schulgebäude brannte teilweise aus, die anrückende Feuerwehr wurde an der Löscharbeit gehindert.
Später in der Nacht griffen die Ausschreitungen auf Pariser Vororte, aber auch auf die Burgunderstadt Dijon über. Gewalttätige Proteste gab es auch in Clichy-sous-Bois. Dort waren 2005 die bisher schwersten Banlieue-Unruhen ausgebrochen, nachdem eine Polizeikontrolle mit dem Tod zweier Minderjähriger geendet hatte.
Der polizeiliche «bavure» (Schnitzer) in Nanterre könnte für Emmanuel Macron unangenehme Folgen haben. Der Präsident steht seit langem unter Druck der Rechten, die ihm vorwirft, er unternehme nichts gegen die landesweite Häufung von Gewaltakten, Einbrüchen, Femiziden und Schiessereien von Drogenbanden. Einzelne Soziologen sprechen gar von einer «décivilisation», also einer «Entzivilisierung» oder Verwilderung der Sitten.
Als Antwort darauf wollte Macron die Polizeikräfte ausbauen, Gefängnisplätze erstellen und ein neues Immigrationsgesetz erlassen. Damit lockte er die konservativen Republikaner, auf deren Stimmen er in der Nationalversammlung angewiesen ist, weil seine Partei dort in der Minderheit ist.
Dieser Kurs nach rechts wird nun von dem Todesfall in Nanterre auf einen Schlag durchkreuzt. Jetzt muss sich Macron plötzlich wieder gegen Angriffe von links verteidigen. «Was bleibt von unserem Rechtsstaat, wenn eine Befehlsverweigerung zu einer standesrechtlichen Erschiessung führt?», fragte Clémentine Autain von der Partei der Unbeugsamen. Parteichef Jean-Luc Mélenchon twitterte bitterböse:
Macron musste am Mittwoch improvisieren. Er sprach von einem «unerklärbaren» und «unentschuldbaren» Akt und fügte an: «Nichts rechtfertigt den Tod eines Jungen.» Fast scheint es, dass es mit diesen Worten für den Staatschef nicht getan sein wird. Innenminister Gérald Darmanin ordnete jedenfalls für die zweite Nacht nach dem Todesfall über 2000 Einsatzpolizisten im Grossraum Paris auf. (aargauerzeitung.ch)