«From Dusk Till Dawn» von Robert Rodriguez vollführt in der Mitte des Filmes einen markanten Genrewechsel. Er beginnt als ernsthafter Road Movie, verwandelt sich aber, kaum betreten die Reisenden eine zwielichtige Bar, zu einem Splatter-Streifen.
Einen ähnlichen Wandel vollführt dieses Interview.
Eigentlich wollten wir mit Shawn Vales über seinen abrupten Fall in die Arbeitslosigkeit reden. Wie so viele Amerikaner verlor er über Nacht mehrere Jobs, mit denen er sich mit
Ach und Krach über Wasser halten konnte. Den Luxus Kündigungsfrist oder gar Kurzarbeit gibt es in den USA nicht.
Doch dann kamen wir per Zufall auf ein anderes Thema zu sprechen. Und plötzlich geriet die Arbeitslosigkeit zum Nebenschauplatz. Denn der zweite Kernpunkt dieses Interviews steht fast noch sinnbildlicher dafür, welch hartes Brot Amerikanern serviert wird, die nicht zur reichen Oberschicht gehören.
Film ab.
Herr Vales, können Sie sich kurz vorstellen?
Shawn Vales: Selbstverständlich. Mein Name lautet Shawn Vales, ich bin 37 Jahre alt und ausgebildeter Kunstmaler (Seine Bilder gibt es hier). Bis vor Kurzem lebte ich in Berkeley in der Nähe von San Francisco.
Können Sie kurz Ihre Lebensumstände vor Ausbruch der Pandemie erläutern? Konnten Sie von Ihrer Kunst leben?
Nein. Marketing und Verkauf gehört leider nicht zu meinen Stärken. Und das bräuchte es. Meinen Lebensunterhalt verdiente ich als Kellner in einem Restaurant, als Lehrer in einem Kulturzentrum und mit Privatunterricht.
Drei Jobs?
Genau. Die Lebenskosten in der Bay Area [Anmerkund d. Red.: Die Gegend rund um die San Francisco Bay] sind sehr hoch. Trotzdem verspürte ich in Berkeley das erste Mal in meinem Leben so etwas wie das Gefühl von Stabilität. Ich gab das Trinken auf, kiffte nicht mehr. Und im Restaurant verdiente ich so gut, dass ich mir neben meinem WG-Zimmer auch ein Atelier leisten konnte.
Was heisst «gut verdienen» konkret?
(Lacht) Als Kellner arbeitet man auf Stundenbasis und man verdient den Minimallohn. Der beträgt in Berkeley immerhin 15.59 $. Doch zum Stundenlohn kamen Trinkgelder: Im Restaurant arbeitete ich vor allem an den Wochenend-Tagen. An denen war viel los. So kam ich auf einen Durchschnittslohn von 42 Dollar pro Stunde. Aber dazu muss man sagen: Das war der höchste Durchschnittslohn, den ich mit der Kellnerei je verdiente. Und ich mach das schon, seit ich 16 Jahre alt bin.
Ihre Situation vor dem Virus tönt recht komfortabel ...
... Es ist trügerisch. Ich hatte Stabilität. Das hielt mich in Berkeley. Aber ich war auch einsam. Meine Eltern, mein Bruder und meine Freunde sind in New Jersey. Ausserdem hatte ich das Gefühl, meine persönliche Entwicklung komme in diesem Hamsterrad zu kurz – ich versuche, stets zu lernen. Ich muss aber zugeben, dass mir Kalifornien mit zunehmender Verweildauer immer besser gefiel. Und langsam entwickelte sich auch meine Karriere als Maler. Eine Ausstellung da, eine Präsentation dort ...
... Doch das alles endete abrupt mit dem Virus. Können Sie uns beschreiben, wie unvermittelt sich die Situation für Sie veränderte?
Es war ein Sonntag. Die Pandemie wütete bereits. Ich arbeitete im Restaurant und wir registrierten einen extremen Kundenrückgang. Ich weiss noch, wie ich mit dem Besitzer im fast leeren Restaurant die Lage besprach. Am nächsten Tag kam der Anruf über die Schliessung. Das war's.
Das Kulturzentrum hatte mich vorher schon darüber informiert, dass sie aufgrund des Virus im nächsten Semester keine Kurse anbieten – und deshalb auf meine Dienste verzichten würden.
Wissen Sie. Deshalb reden wir mit Ihnen. In der Schweiz ist es fast nicht vorstellbar, welchen Bedingungen Arbeitnehmer in den USA ausgesetzt sind. Wir haben mit offenem Mund zugesehen, wie die Arbeitslosenquoten wöchentlich immer weiter in die Höhe schossen. In dieser Unverbindlichkeit zu leben, ist für uns fast unvorstellbar.
(Lacht) Und es geht ja noch weiter. Am Mittwoch rief mich einer meiner beiden WG-Kollegen an, dass er an der Universität nur noch Online-Kurse besuchen werde – und deshalb nicht mehr in Berkeley und der WG bleibe. Meine andere WG-Kollegin zog ebenfalls aus. Auch sie musste wegen des Virus gehen. Mir blieb die Wahl: Mich in Berkeley ohne Einkommen auf die Malerei zu konzentrieren und eine Wohnung für 3000 Dollar zu bezahlen – oder halt zu gehen.
Sie entschieden sich fürs Gehen?
Ja. Ich besitze nur wenig. Was nicht in meinem 2009er Yaris Platz hatte, landete in der Mülltonne. Das tönt jetzt badass, aber so viel war das gar nicht. Meine wichtigsten Bilder deponierte ich bei Freunden. Am Freitag Morgen, vier Tage nachdem ich meinen Restaurant-Job verloren hatte, fuhr ich los.
Ich nehme an, auch die Wohnung kann von heute auf morgen gekündigt werden.
So einfach ist es nicht. Ich musste einen Monat zusätzlich bezahlen.
Konnten Sie das? Hier herrscht die Überzeugung, dass sich Amerikaner grundsätzlich von einem Zahltag zum nächsten hangeln.
Das Stereotyp entspricht schon auch ein wenig der Wahrheit. Ich glaube nur etwa 20-30 Prozent aller Amerikaner haben einen höheren Kontostand als 5000 Dollar. Und auch ich gehörte lange Zeit zur Mehrheit der anderen. Durch meine steten Einnahmen und meinen asketischen Lebensstil konnte ich in den letzten Jahren aber etwas auf die Seite legen. Die Klassiker – Kreditkartenschulden oder Leasingschulden – habe ich nicht. Meine einzige Sorge sind die Studiendarlehen.
Studiendarlehen gelten in den USA aber auch als ein Riesenproblem.
Ja. Studiendarlehen sind ein bisschen wie der Häusermarkt, bevor die Bubble platzte. Da wird etwas zu einem Preis verkauft, der nicht dem tatsächlichen Wert entspricht. Gerade in den Kunstfakultäten. Aber in den USA wird dir das Gefühl vermittelt, dass du als Nicht-Studierter nichts wert bist. Und deshalb lassen sich viele darauf ein, sich zu verschulden. Auch ich. Weil ich so lange studiert habe, hat sich bei mir sehr viel angehäuft. Ich bin aber nicht repräsentativ. Ich glaube, das durchschnittliche Studiendarlehen in den USA beläuft sich auf 30’000 Dollar.
Jetzt wollen unsere User natürlich wissen, wie hoch Ihre Studiendarlehen sind.
Momentan belaufen sich meine Studienschulden auf etwa 300’000 Dollar.
Was?
Ich habe zu Beginn an einer sehr guten Universität studiert. Und ich hatte sehr lange für meinen Abschluss.
Ja aber … und was heisst momentan?
Für mein Studiendarlehen müsste ich monatlich über 2000 Dollar Zinsen bezahlen …
… das ist in der Region von 8 Prozent?
Genau. Was tatsächlich bezahlt werden muss, berechnet sich aufgrund des Einkommens. In Realität sind es für mich 800 Dollar pro Monat. Der Rest wird zu meinen Schulden addiert.
Ihre Schulden für Ihren Uniabschluss nehmen also monatlich weiter zu?
So ist es.
Das ist verrückt. Glauben Sie daran, dass Sie diese Summe jemals zurückbezahlen können?
Ich hoffe es. Ich wäre ehrlich gesagt von mir enttäuscht, wenn ich das nicht könnte. Ich habe einen Vertrag unterzeichnet, und den will ich einhalten. So war der Deal.
Gäbe es eine Möglichkeit, dass Ihnen die Schulden erlassen werden? Wenn zum Beispiel ein sozialerer Präsident an die Macht käme?
Wie gesagt. Ich möchte die Summe zurückzahlen. Das ist mein Ehrgeiz. Es gibt aber eine andere Möglichkeit: Wenn ich jede einzelne Rate bezahle, ohne Unterbruch, 20 oder 25 Jahre lang – ich weiss es nicht genau – wird meine Schuld getilgt. Ich bin auf gutem Weg dazu. Ich habe bisher immer alles pünktlich bezahlt. Das Ganze hat aber einen Haken.
Wie hätte es anders sein können.
In dem Jahr, in dem meine Schuld getilgt wird, wird mir dieselbe Summe als steuerbares Einkommen verrechnet. Wenn es so weitergeht, werden meine Schulden bis zu diesem Zeitpunkt etwa 450’000 Dollar betragen. Das müsste ich dann versteuern. Ab 400’000 Dollar sind Einzelpersonen in der höchsten Steuerklasse. Der Steuersatz beträgt dort etwa 40 Prozent. Das bedeutet, dass ich dann erneut etwa 180’000 Dollar Schulden hätte. Es wären dann einfach Steuerschulden.
Jesus Maria. Ich bin etwas sprachlos ... wie steht es momentan um Ihre Einkünfte?
Im Moment erhalte ich 450 Dollar Arbeitslosengeld pro Woche. Sobald ich 11’500 Dollar bezogen habe, müsste ich eine Verlängerung beantragen. Und aus dem CARES Act, der wegen des Coronavirus eingeführt wurde, erhalte ich seit Mai bis Ende Juli wöchentlich 600 Dollar. Ausserdem kriegte ich den ominösen Check über 1200 Dollar. Das Geld hat mir den Transfer nach New Jersey vereinfacht.
Ja. Kommen wir zurück auf Ihre Reise. Sie gingen von Kalifornien weg.
Am Freitag Morgen fuhr ich los. Ich fuhr an jedem Tag ca. 12 bis 14 Stunden. Am Sonntagabend war ich bei meinen Eltern in New Jersey. Es gibt die Interstate 80. Die führt quasi durchs ganze Land von der Bay Area bis nach New York.
Und jetzt leben Sie wieder bei Ihren Eltern?
Ja. Ich bin jetzt 37 Jahre alt und wohne mit meinem Bruder erneut bei meinen Eltern in einem kleinen Mietshaus in New Jersey. Weil es nicht genug Platz gibt, schlafe ich auf dem Boden in einer Nische zwischen zwei Zimmern. Es sieht auf den ersten Blick nicht nach einem Leben aus, auf das man stolz sein könnte. Doch ich bin zufrieden. Ich stehe jeden Morgen zwischen 4 und 5 Uhr auf, meditiere, gehe in die Natur hinaus und male Bilder. Ich kann tun, was mir entspricht.
Haben Sie einen Plan, wie es weitergehen könnte? Was ist, wenn das Restaurant in Berkeley wieder anruft?
Im Moment ist das Restaurant noch geschlossen und ich glaube nicht, dass sich das so schnell ändert. Aber am Ende bin ich offen für alles. Ich habe keine Familie, keine Beziehung, ich habe keine Verpflichtungen. Und mit Verpflichtungen meine ich auch innere Zwänge. Das Virus, so schlimm es auch ist, und ich möchte es nicht verharmlosen, ist auch eine Chance. Zum Beispiel, um eingefahrene Sichtweisen oder Dinge neu zu bewerten. Als ich in New Jersey ankam, konnte ich eine Zeit lang nicht malen. Das war für mich eine ganz neue Herausforderung, denn «Künstler sein» war ein grosser Teil meiner Identität. Mir wurde bewusst, wie sehr mir das Bild von mir selbst als Künstler gefiel. Und nun drohte diese Identität mich zu verlassen.
Das löste in mir einen heilsamen Prozess aus. Mir wurde bewusst, welchen Einfluss mein Selbstbild auf mich hatte. Und auf meine Kunst. Ich habe früher immer geglaubt, mit meiner abstrakten Kunst etwas Bedeutsames schaffen zu müssen. Da floss viel Ego in meine Arbeit. Das habe ich heute nicht mehr. Ich habe eine ganz neue Sicht auf die Dinge. Und ich spüre, wie ich das Malen einfach brauche. Nicht als Image, sondern als Mensch.
Wie es weitergehen soll? Momentan bin ich zufrieden. Ich werde versuchen, dass das so bleibt. Als Kind wird dir eingetrichtert, dass man später alles werden kann, was man sich wünscht, wenn man sich dafür nur genug anstrengt. Eine sehr zukunftsgerichtete Perspektive. Doch irgendwann muss diese Zukunft zur Realität, zur Gegenwart, werden. Damit hatte ich bisher Schwierigkeiten. Ich hoffe, diesen Schritt irgendwann zu schaffen.
Ich habe diesen einen Künstler in Boston kennengelernt und mir geschworen, irgendwann einmal bei ihm zu studieren. Er ist sagenhaft. Aber wann? Keine Ahnung. Irgendwann. Vielleicht ziehe ich dorthin und versuche, sein Assistent zu werden. Wir werden sehen, wenn sich die Lage wieder etwas entschärft. Aber ich verschliesse keine Türen. Auch nicht, wenn das Restaurant in Berkeley anruft.
Und das Studentendarlehen?
Das bezahle ich zurück. Sieben Jahre lang 5000 Dollar pro Monat zurückzahlen. Das sollte irgendwie möglich sein. Gerade mit meinem Lebensstil.
Einserseits: Respekt
Andererseits: ....