Die Zahl 1984 ist mindestens dreifach in den steinernen Boden der Kulturgeschichte gemeisselt. Erstens, weil ein Schaffhauser Musiker namens GUZ damals ein Mädchen kennen lernen wollte und darüber den Song «Sommer 1984» schrieb. Zweitens, wegen George Orwells Erfindung des Big Brothers im Roman «1984».
Und drittens schrieb 1984 Margaret Atwood jene Schauergeschichte, von der gerade alle sagen, dass sie als Metapher für Trump und die Frauen Amerikas zu lesen sei. Das ist Bullshit. Obwohl Atwoods Roman «The Handmaid's Tale» («Der Report der Magd») wirklich schlimm ist. Als Dystopie. Nicht als Prophezeiung.
1984 lebte Margaret Atwood in Westberlin. Die ummauerte Stadt mit ihrer Todeszone muss sich bedrohlich angefühlt haben für die Kanadierin. Denn sofort schrieb sie Mauern, die voller Leichen hängen, in ihren Roman. So, wie auch alle andern Schrecken ihres Buches im «Alptraum der Geschichte», wie sie sagt, schon einmal vorgekommen seien.
Deutsche Nazis, afroamerikanische Sklavenschicksale, argentinische Kinderräuber, die Sowjetpräsenz in der DDR und das Warenangebot in Ostberlin werden zusammengeworfen. Der Überwachungsterror aus «1984» trifft auf Episoden aus der Geschichte aller Geschichten, der Bibel. Eine Collage als Parabel.
Konkret hat Margaret Atwood einen Staat namens Gilead erfunden. Er ist eine Theokratie, ein Gottesstaat nach alttestamentarischem Vorbild. Gilead ist nicht irgendwo, Gilead ist Nordamerika nach einer Nuklearkatastrophe. Millionen von Frauen sind unfruchtbar. Die Fruchtbaren werden gejagt, gefangen und in eine Art Gebärkloster gesteckt, wo sie mit mächtigen Männern Kinder machen müssen. Wer nicht gehorcht, wird gefoltert, verstümmelt, verbannt. Bücher sind verboten. Amerika ist eine Kolonialmacht.
Klar, dass aus diesem Stoff eine Serie werden musste. Je unsicherer sich die Welt fühlt, desto süchtiger ist sie nach dystopischen Stoffen. Nach Weltuntergangsszenarien. Nach «Hunger Games» und «Games of Thrones». Nach «Westworld», «The Leftovers», «The Walking Dead». Schliesslich müssen die ganzen Verlustängste irgendein Ventil finden.
Das Videoportal Hulu hat die Gelegenheit ergriffen und aus Atwoods nicht gerade umfangreichem Buch eine Serie gemacht, die zweite Staffel ist bereits in Planung. Elisabeth Moss, die seit «Mad Men» und «Top of the Lake» allgemein als «American Treasure» gilt, spielt die Hauptrolle, spielt Offred («of Fred», denn Fred heisst ihr Besitzer und Besamer), früher eine typische Starbucks-Gängerin, jetzt eine Sklavin.
Alexis Bledel, die Rory aus den «Gilmore Girls» wurde als Köder für ein Publikum, das deutlich unter dem Schnitt von Atwoods Leserschaft liegen dürfte, eingeschleust. Sie ist gut, Bledels Szenen die eindringlichsten, ihr Schrecken der Grösste. Sie, die schon in «Mad Men» als verheiratete Geliebte eines verheirateten Werbers in der Psychiatrie unter Elektroschocks gesetzt wurde, wird nun in «The Handmaids' Tale» als unwillige, da lesbische Gebärmaschine kurzerhand genitalverstümmelt. Einer andern wird ein Auge ausgerissen.
Dazwischen geschieht allerdings nicht sooo viel. Zwischen all den peinigenden Ritualen wie kollektivem Slutshaming sehen wir vor allem, wie Elisabeth Moss in ihrer klösterlichen Kammer kauert (am liebsten im Kleiderschrank) und lange laut nachdenkt. Wie sie lauscht und leidet und Rückschau hält auf ihr normales, langweiliges Leben vor Gilead.
Mit Lancierung der Hulu-Serie schoss Atwoods Buch auf Platz 1 der amerikanischen Bestsellerlisten, (bei Amazon ist es noch immer auf Platz 7), dorthin, wo nach der Wahl von Trump eben noch «1984» gestanden hatte.
Die Betroffenheitsbezeugungen von Zuschauerinnen und Journalistinnen nehmen angesichts von «The Handmaid's Tale» kein Ende. Anti-Trump-Demonstrantinnen verkleiden sich als Handmaids. Alle signalisieren sie Angst. Angst davor, dass die Fiktion Realität werden möge. Wenn sie es denn nicht schon ist! «The New Republic» vergleicht gar Gilead mit Texas und Indiana. Aber warum? Ist es wirklich derart spät im Trump-Land? Ist es nicht.
Anderswo schon. Anderswo mag Atwoods Vision einem Teil der alltäglichen Wirklichkeit entsprechen. Aber reden die trumpisierten Amerikanerinnen auch über die Mädchen von Boko Haram? Die gesteinigten Ehebrecherinnen in Afghanistan? Die vergewaltigten Frauen in Indien? Nein. Tun sie nicht. Sie sehen sich selbst und nur sich selbst als Opfer. Und Margaret Atwood suggeriert, dass irgendwo in Amerika bereits eine neue Offred die Unterdrückung erlebe, die sie im Roman beschrieben hat.
Und so wird denn die amerikanische Rezeption von «The Handmaid's Tale» – Monate nach dem Women's March auf Washington – zu einem einigermassen ärgerlichen Rückfall in den 80er-Jahre-Feminismus, unter dessen Einfluss Atwood beim Schreiben logischerweise stand. Jenen Feminismus, der anklagte und bezichtigte und die Welt ganz klar in Opfer und Täter aufteilte. Opfer sind passiv. Sie tragen keine Verantwortung. So wie Offred, die widerstandslos unverständlich viel mit sich geschehen lässt.
Liebe Opfer-Amerikanerinnen, die ihr gerade in weissen Hauben rumjammert: Hört auf damit, euch selbst jede Verantwortung an der Demokratie abzusprechen, in der ihr lebt. Ohnmacht mag bequem sein, aber sie ist keine Option. Ihr alle habt Trump mitgeboren, er kam nicht einfach über euch. Und wenn ihr schon die Fiktion mit der Realität gleichstellt: In euren Kinos, hören wir, läuft jetzt gerade «Wonder Woman». Die Frauen darin sollen verdammt stark sein.
dracului
Überdimensionierte Riesenshrimps aka Reaper
Viele Frauen haben für Trump gestimmt, eine Sarah Palin ist eine Erzkonservative.
Ich kannte einige Alte Frauen die glaubten das dass "Wibervolch" nie das Stimmrecht hätten erhalten dürfen.
Diese Ansichten wurden den Schwieger- und Enkeltöchtern eingetrichtert.
Man muss halt aus der Konfortzone ausbrechen um etwas zu Ändern, ist leider Unbequem und es könnte Ungemütlich werden
crik
Die Serie weicht jedenfalls in wesentlichen Punkten vom Buch ab. Neben ganz konkreten Punkten (Schwarze wurden deportiert, Offred half Moira nicht bei der Flucht, Ofglen verschwindet erst am Ende der Geschichte etc) kann meiner Meinung nach der Film die Beklemmung, die im Buch fast ab der ersten Seite herrscht, nicht reproduzieren.