Neben dem andauernden Krieg in der Ukraine sind nun auch zwischen Aserbaidschan und Armenien wieder schwere Kämpfe ausgebrochen. Armenien hat bereits dutzende Tote gemeldet.
Der Hintergrund des Konfliktes und die Frage, was genau Russland damit zu tun hat:
Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan schwelt nun schon seit über 100 Jahren. 1994 ist ein Waffenstillstand vereinbart worden – doch dieser bröckelt bereits seit 2014. Der eingefrorene Konflikt taut auf.
Und ist seither immer wieder heiss geworden. Seit Jahren kommt es an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze zu gewaltsamen Zwischenfällen. Mit vielen Toten.
Aserbaidschan ist ein islamisch geprägtes Land, Armenien ist vornehmlich von orientalisch-orthodoxen Christen bevölkert. Die beiden Gruppen leben schon lange im Clinch. Beide Staaten gehörten ab den 20er-Jahren der Sowjetunion an – der Konflikt schwelte im Verborgenen.
Bis 1988.
Bei anti-armenischen Ausschreitungen in der aserbaidschanischen Stadt Sumgait kamen mehrere Dutzend Menschen ums Leben. Die umkämpfte Provinz Berg-Karabach – die während der sowjetischen Herrschaft zur Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik gehörte – wollte sich nach 1989 mit Armenien vereinigen. Für Aserbaidschan keine Option: Es kam zu etlichen Übergriffen an der armenischen Bevölkerung.
1990 schritt Russland ein. Statt einer Beruhigung der Lage führte diese Intervention zum armenisch-aserbaidschanischen Krieg. Gemeinsam mit paramilitärischen Einheiten aus Berg-Karabach und russischen Truppen eroberte Armenien die umkämpfte Provinz und Teile Aserbaidschans. Die Menschen, die in der Region gelebt hatten – also Kurden und Aserbaidschaner – wurden vertrieben. 1994 wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt.
Laut der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung sollen insgesamt zwischen 30'000 und 50'000 Menschen gestorben sein. Rund 800'000 Aserbaidschaner sowie 300'000 Armenier sind geflüchtet.
Seit dem Krieg ist die Region Berg-Karabach ein Krisenherd geblieben. 2020 hat Aserbaidschan seine verlorenen Gebiete zurückerobert und ausserdem strategisch wichtige Stellen in Berg-Karabach eingenommen.
Das umstrittene Berg-Karabach gehört zu Aserbaidschan, wird aber von Armeniern bewohnt. Die Einflüsse in der Region haben sich über die Jahrhunderte immer wieder verändert – immer wieder haben die Herrschaftsverhältnisse gewechselt. Mit der Unabhängigkeit von Armenien, Aserbaidschan und Georgien 1918 entbrannte der Streit um diese Region – denn alle drei Staaten wollten die Macht dort haben.
Mit Unterstützung des Osmanischen Reiches und mit dem Wohlwollen der britischen Krone, die in dieser Zeit in der Region aktiv war, ging Berg-Karabach an Aserbaidschan. So fasst es die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg (LPB) zusammen. Die Bevölkerung der Region: mehrheitlich Armenier.
Bis heute streben diese nach einer Unabhängigkeit von Aserbaidschan.
Durch die blutigen Kriege, die Armenien und Aserbaidschan um diese Region geführt haben, sprechen beide Seiten bis heute kaum miteinander. Die LPB schreibt dazu:
Bei der aktuellen Eskalation ist es nicht Berg-Karabach, das angegriffen wird. Stattdessen sind es diesmal Städte auf armenischem Staatsgebiet: Sotk, Dschermuk und Goris.
Beide Staaten geben sich für die Eskalation des Konflikts gegenseitig die Schuld. Das armenische Verteidigungsministerium teilte mit, aserbaidschanische Truppen hätten an drei Stellen armenische Stellungen mit Artillerie und grosskalibrigen Waffen angegriffen. Es gebe Tote und Verwundete.
In der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku sprach das Verteidigungsministerium wiederum davon, dass ein grossangelegter armenischer Sabotageversuch die Kämpfe ausgelöst habe. «Die gesamte Verantwortung für die Situation liegt bei der militärisch-politischen Führung Armeniens», hiess es.
Russland ist eine Schutzmacht Armeniens. Russische Friedenstruppen halten sich in Berg-Karabach auf, um die Situation stabil zu halten. Russland hat eine diplomatische Rolle in dem Konflikt eingenommen – gemeinsam mit den USA und Frankreich.
Das hat den Präsidenten Wladimir Putin allerdings nicht daran gehindert, auch Waffen an Aserbaidschan zu liefern. Die LPB fasst diese Doppelrolle folgendermassen zusammen:
So könnte die Fortführung des Berg-Karabach-Konfliktes aus russischer Sicht vorteilhafter gewesen sein als die Beilegung und Befriedung.
Nach Angaben aus der armenischen Hauptstadt Eriwan hat Armenien offiziell die von Russland geführte Militärallianz «Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit» (OVKS) um Hilfe angerufen.
Dass Putin das Konzept Schutzmacht nicht zwingend wichtig ist, ist an dem aktuellen Krieg gegen die Ukraine bestens abzulesen. Auch hier ist die Russische Föderation eigentlich der Staat, der auf den kleineren Nachbarn aufpassen sollte – festgehalten war diese Verpflichtung im sogenannten Budapester Memorandum. Und ebenjener Krieg bündelt natürlich die russischen Kräfte. Aserbaidschan nutzt diese Situation nun aus. Das dürfte aber nicht der einzige Grund für die Angriffe sein.
Offenbar nutzt Baku aus, dass Putin auf Aserbaidschans engste Verbündete angewiesen ist: die Türkei. Denn die braucht Russland, um die diplomatische und wirtschaftliche Isolation zum Westen zu durchbrechen. Die Türkei verfolgt mithilfe Aserbaidschans ihre eigenen Interessen in der Kaukasus-Region – Putin könnte sich deshalb zurückhalten. Mit Blick auf seine möglichen eigenen Vorteile. Die Türkei wiederum wirft Armenien «Provokationen» vor.
Erst im Juli hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) den aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew in Baku getroffen. Bei dem Treffen ging es um Gas.
Konkret darum, dass Aserbaidschan bis 2027 die Gaslieferungen an die EU verdoppeln soll. Von der Leyen und Alijew haben gemeinsam eine entsprechende Absichtserklärung unterschrieben.
In Zukunft soll sich Aserbaidschan ausserdem zu einem Energiepartner der Erneuerbaren entwickeln: Offshore-Windenergie und grüner Wasserstoff. Auf Twitter erklärte von der Leyen, dass Aserbaidschan ein vertrauenswürdiger Partner sei.
The EU is turning to trustworthy energy suppliers.
— Ursula von der Leyen (@vonderleyen) July 18, 2022
Azerbaijan is one of them.
With today's agreement, we commit to expanding the Southern Gas Corridor, to double gas supplies from Azerbaijan to the EU.
This is good news for our supplies of gas this winter and beyond. pic.twitter.com/j1sVcv10z6
Eine langfristige Partnerschaft also – und das, obwohl Aserbaidschan regelmässig Menschenrechte verletzt. Auch die Pressefreiheit ist in dem Land im Kaukasus stark eingeschränkt. Auf der internationalen Rangliste der Pressefreiheit liegt die Kaukasusrepublik mittlerweile auf Platz 154 – von insgesamt 180.
Nach der Energieabhängigkeit von Russland setzt die EU nun auf das nächste autokratische System, mit einem Aggressor an der Spitze.
(Mit Material von dpa)