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Als Journalistin bleiben oder gehen? Moskau-Korrespondentin zieht Bilanz

A woman takes a selfie photo in St. Petersburg, Russia, Tuesday, Oct. 11, 2022, with the Admiralty building and the St. Isaac's Cathedral in background. (AP Photo/Dmitri Lovetsky)
Selfie vor der Isaakskathedrale in St. Petersburg: Das Leben in Russland während des Krieges in der Ukraine.Bild: AP

«An manchen Tagen will ich die Menschen schütteln» – Moskau-Korrespondentin zieht Bilanz

Als Journalistin bleiben oder gehen? Die Moskau-Korrespondentin Inna Hartwich über bewegende Begegnungen in einem schweigenden Land ohne Zukunft.
31.12.2022, 12:2331.12.2022, 21:36
Inna Hartwich, Moskau / ch media
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Es war an einem sonnigen Dienstagnachmittag in Moskau. Einem dieser freundlichen Tage, wie es so viele gab, seit Wladimir Putin am 24. Februar seine «militärische Spezialoperation» ausgerufen hat und die Ukraine Tag und Nacht terrorisiert. In Moskau hat sich seitdem nichts verändert. Auf den ersten Blick. Die Stadt lebt ihr bisheriges Leben einer Metropole. Autos rasen, sie hupen, sie stehen im Stau. Die Menschen eilen irgendwohin, die einen rennen zum Bus, die anderen biegen um die Ecke in ein volles Café. Auf der Moskwa schippern die Schiffe, bis die ersten Eisschollen sie aufhalten werden.

Ein normales Leben, hätte man früher gesagt, als das Leben tatsächlich als normal zu bezeichnen gewesen war. Seit dem 24. Februar tut Russland so, als sei alles normal. Für manche in der Stadt ist das unerträglich.

Für Rita zum Beispiel. Und Hunderttausende andere, die ihrer Heimat den Rücken kehren. Die es nicht mehr aushalten hier, die keinen Job mehr finden, die ihre Kinder aus dem Land bringen, weil sie die zunehmende Indoktrinierung nicht ertragen. Die nicht in den «Fleischwolf» in der Ukraine geschickt werden wollen, wie sie sagen, für Ideen, die nicht die ihren sind. Der Raum, um für ihre eigenen Ideen zu kämpfen, wird ihnen genommen. Das Parlament arbeitet nahezu täglich an Verschärfungen von Gesetzen.

Vorsichtiges Herantasten: Journalismus in Russland

Manche Menschen ergreifen die Flucht und sagen: «Das hier ist nicht mehr mein Land» und leiden auch woanders an diesem, ihrem Land. Sie gehen in der Hoffnung, bald wiederzukommen. Was aber ist dieses «bald»? Sie wissen es nicht. Rita sagt: «Ich habe mich entschieden, und diese Wahl lasse ich mir nicht nehmen.» Sie will nach Israel. Wie mittlerweile mehr als 30000 ihrer Landsleute. 25000 Russen jüdischen Glaubens sind in den vergangenen Monaten israelische Staatsbürger geworden. Und so steht die 38-jährige Ärztin an diesem Dienstagnachmittag zwischen ein paar bräunlichen Bücherregalen. Zufällig neben mir.

Ich war in diesen Buchladen gegangen, um zu sehen, ob wirklich die Bücher aus dem Regal verschwunden sind von Autoren, die sich gegen diesen Krieg aussprechen. So hatte ich es in einigen Telegram-Kanälen gelesen. Hatte gelesen, dass die Werke mit der Aufschrift «Ausländischer Agent» versehen würden, dass die Bücher in dunkles Papier eingepackt würden und man kaum den Titel des Buches finde. In diesem Laden, dem grössten staatlichen Buchgeschäft des Landes, steht allerlei: Bücher von Autoren, die den Krieg befürworten nicht weit von Werken der Autoren, die den Krieg aufs Schärfste verurteilen. Dazwischen finden sich hübsche Neuausgaben von «1984» und von «Wir», einem sowjetischen Dystopie-Roman. Es war das erste Buch, das in der Sowjetunion zum verbotenen Roman erklärt wurde.

Ich gehe durch die Gänge, wie auch Rita das tut. Wir bleiben an einem kleinen Regal stehen. Mit Hebräisch-Büchern. Vor dem Krieg habe ich bei einer Russin Hebräisch gelernt, einfach so, weil es mich interessiert. Wir umgingen die Politik und konzentrierten uns auf den Unterschied zwischen hebräischen und russischen Verben. Der Krieg nahm mir auch die Freude daran. Nun will ich das Gelernte wieder hervorholen, für mich zu Hause, ohne die Lehrerin.

Das Ladenregal hat allerdings nur wenige Lehrwerke zu bieten. Rita schaut mich eindringlich an. «Wollen Sie auch gehen?», fragt sie. Noch ehe ich etwas sagen kann, redet Rita. Das ist aussergewöhnlich. Seit Russland die Ukraine vernichten will, redet kaum mehr einer in Russland offen und frei. «Krieg», «Spezialoperation», «die Ereignisse», «die Gesamtsituation», «das, was passiert» - egal, welche Worte die Menschen wählen, sie wählen sie nur, wenn sie in etwa wissen, wie das Gegenüber dazu steht. Weil sie es aber meistens nicht wissen, sagen sie auch nichts. Die journalistische Arbeit erschwert das enorm.

Vor Jahren noch, ja selbst vor Monaten waren die Menschen vor allem in der russischen Provinz froh, ausländischen Journalisten von ihrem Leben zu berichten. Sie waren geradezu stolz, Besuch aus dem Ausland zu empfangen, zu erzählen, manchmal auch zu belehren. Sie scheuten sich kaum, über Missstände zu sprechen. «Wenn schon unsere Journalisten davon nichts hören wollen, so erzählt ihr wenigstens darüber», sagten sie oft. Viele von ihnen träumten von einem schönen Leben. «So wie ihr in Europa», sagten sie. «Europa» oder «europäisch» waren Worte, die etwas Magisches innezuhaben schienen. Wovon träumen sie jetzt?

Die meisten sind verstummt. Es gibt nur noch ein Thema. Es gibt nur noch den Krieg und alles, was damit zu tun hat: fehlende Mittel, fehlende Reisen, fehlende Achtung. Viel Leid. Kaum eine Zukunft. Darüber reden wollen nicht viele. Die einen, weil sie für alles, was schiefläuft in ihrem Land, den Westen verantwortlich machen und meinen, der Westen habe einfach nichts kapiert, warum also nochmals was sagen? Die anderen, weil es ihnen so wehtut, weil sie sich schämen vor der Welt, sich hilflos fühlen. Und weil sie Angst haben, für diese Worte Probleme mit dem Staat zu bekommen. Noch nie in meinem journalistischen Leben habe ich die Gesprächspartner so oft anonymisiert wie in den vergangenen zehn Monaten.

Und nie habe ich so viel über mich selbst geredet. Über meine Arbeit, mein Leben in Russland. Nur wenn es gutläuft, fassen die Menschen Vertrauen und erzählen. Seit Kriegsbeginn läuft es meistens schlecht. Die Menschen lassen einen stehen. Sie legen wieder auf. Sie verweisen auf «Probleme», sprechen davon, dass sie mit «dem Westen» nicht sprechen, manche schreien auch: «zum Teufel mit euch Verrätern.»

Wenn sie reden, rechtfertigen sie sich. Werfen einem die immer selben Floskeln an den Kopf. Floskeln, die genau so von den Propagandisten im Staatsfernsehen Tag für Tag über den Bildschirm laufen: «Wir beenden Kriege, wir fangen keine Kriege an. Der Westen wollte uns immer klein halten! Die Ukraine ist selbst schuld! Wir bringen Frieden!» Sie machen sich lustig darüber, dass manche Ukrainer in diesen Tagen ihre Kinder zu Tankstellen tragen, damit diese dort an ein Inhalationsgerät angeschlossen werden können. Sie sagen mit ruhiger Stimme, wie blöd doch die Ukrainer sein müssten, wenn sie gar Generatoren in die Keller schleppten. Sie erwähnen nicht, warum die Ukrainer in der dunklen Kälte ausharren müssen.

Eine Art Schwebezustand zwischen Wut und Mitleid

An manchen Tagen will ich die Menschen schütteln und erschrecke vor mir selbst. An anderen erkläre ich ruhig, was für einen Stuss sie da von sich geben. Kaum je ist ein Durchdringen möglich. An vielen Tagen sage ich nichts, drehe mich um und gehe. Sie haben sich in einer Lüge eingerichtet, die für sie Wahrheit ist. Psychologen sagen, die Menschen schützten sich. Schützten sich vor Scham, vor Grausamkeiten, die sie abspalten, um zu überleben.

Wie können sie mit einer solchen Schuld leben? Mit einer solchen Verantwortung? Manchmal sehe ich Männern hinterher, solchen, die uns Trinkwasser ins Haus tragen, solchen, die neben ihren Kindern in einem Werkenkurs am Sonntag sitzen wie ich es neben meinem Kind tue, und fange mich beim Gedanken, ob sie nicht vielleicht bald eingezogen würden. Die Mobilisierung ist offiziell nicht zu Ende. Es sind erschreckende Gedanken. Ja, auch Gedanken des Mitleids.

Wir, die Vertreter«unfreundlicher Staaten»

Gehen, bleiben, ertragen? Auch ich stelle mir solche Fragen in diesen Monaten. Jeden Tag. Es ist wie ein Hintergrundrauschen im Kopf. Die Antwort lautet: Bleiben, solange es möglich ist. Solange mich dieser Staat die Arbeit machen lässt, die ich hier mache. Er erschwert sie immer mehr. Beliebt waren westliche Journalisten auch vor dem Krieg nicht bei den Behörden. Nun sehen die Offiziellen uns, «Nestbeschmutzer» in ihren Augen, als Vertreter «unfreundlicher Staaten».

Das hat Auswirkungen auf unseren Aufenthalt. Bekamen wir vom russischen Aussenministerium früher eine Akkreditierung für ein Jahr, die die Grundlage für ein Visum und somit den Verbleib in Russland bildete, so erhalten wir diese Akkreditierung nun für jeweils drei Monate. Oft nur wenige Tage bevor die alte ausläuft. Es ist ein ständiges Bangen, alle paar Wochen aufs Neue.

Reisen von und nach Moskau sind ebenfalls erschwert. Direkte Flüge nach Europa gibt es nicht mehr. Jeder Grenzübergang ist unangenehm, weil der Beamte Fragen stellen könnte. Fragen wie «Wie stehen Sie zur ?Spezialoperation??», «Was halten Sie von der Ukraine?» Es ist reine Willkür. Man weiss nie, was mit den Antworten passiert, man steht an der Grenze und hofft, wieder ins Land gelassen zu werden, das seit Jahren eine Art Zuhause ist.

Die Einsamkeit in diesem Moskauer Zuhause ist gross, weil nahezu alle Freunde - russische wie ausländische - gegangen sind. Hier versuche ich, die Nuancen über das heutige Russland zu verstehen. Ich würde sie noch weniger begreifen, wäre ich nicht vor Ort. Die Dissonanz zu ertragen, in einem Kriegsland zu wohnen, das so tut, als führe es keinen Krieg, verlangt Tag um Tag Kräfte, von denen ich nicht glaubte, dass ich sie besitze. Millionen von Menschen in Russland tragen diesen Krieg mit. Viele von ihnen hinterfragen ihn nicht. Sie schicken ihre Söhne in den Krieg und halten sie für Helden. Sie beerdigen ihre Leichen und sagen: «So ist das Leben.» Die Schicksalsergebenheit vieler Russen hat mich immer irritiert. Ich kann sie auch jetzt nicht verstehen.

Über Russland schreiben, heisst, ausschliesslich über den Krieg zu schreiben. Über einen grauenvollen Vernichtungskrieg, der für viele Menschen im Land eine Art fernes Spiel zu sein scheint. Zurück bleiben Verheerungen. Auf Jahrzehnte hinaus. (bzbasel.ch)

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51 Kommentare
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Hösch
31.12.2022 13:54registriert März 2022
Es ist die schweigende Mehrheit die Diktatoren an der Macht hält.
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butlerparker
31.12.2022 17:48registriert März 2022
Die Autorin beschreibt ganz gut,was die RUS Familie meiner Frau jetzt alles so von sich gibt.Es ähnelt fatal,was mein in WKII gefallener Opa von sich gegeben hat.Er war kein Nazi,hat aber für D gekämpft.Letzter Brief im März 1945:"Wir werden es den Tommys schon noch zeigen".
Es ist das Ergebnis übersteigerten Nationalismus+Propaganda.

Putin (Hitler) = RUS (D).Dafür kämpft man.Jeder,der es nicht tut,ist ein Verräter an RUS.

So lange es dieses Wertsystem+Gleichsetzung gibt,wird sich nichts ändern.Dazu kommt,viele RUS leben in der (glorreichen)Vergangenheit.Es schwer,Lebenslügen einzugestehen
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B-M
31.12.2022 15:39registriert Februar 2021
Dass die Menschen Angst habenzu reden, verstehe ich durchaus. Das ist gefährlich in Russland.
Aber jene, die Putins Lügen aktiv weiterverbreiten, sind hochgradig mitschuldig an dem Leid, das Russland anrichtet. Denn bei aller Propaganda existiert die Möglichkeit, sich selbst zu informieren. Wir leben im Zeitalter des Internets.
Aber es ist halt einfacher, die Lügen, in welchen man zu den Guten gehört, zu glauben, als sich der Realität zu stellen.
Diese Leute werden ein Problem sein, lange nachdem Putin untergegangen ist.
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