Als Kanada und Dänemark letzte Woche den wohl extremsten Grenzstreit der Welt beendeten, war das lustig und etwas schräg. Doch der Hintergrund der neuen Grenze auf der kleinen, arktischen Hans-Insel nordwestlich von Grönland ist viel ernster. Obwohl die Ukraine weit weg ist, geht es auch bei den nun beigelegten jahrzehntelangen Querelen um Gebietsansprüche, Grenzkonflikte, Rohstoffe – und letztlich Grossreichfantasien des Kremls, die sich bis zum Nordpol erstrecken.
Die neue dänisch-kanadische Grenze wurde mitten auf der felsigen, unbewohnten Hans-Insel im Niemandsland zwischen den Eisbergen gezogen. Ein freundschaftlicher Akt, für den sich die beiden Ländern sowie das halbautonome, zum dänischen Königreich gehörende Grönland gegenseitig auf die Schultern klopften: Mit Blick auf die Ukraine-Invasion hoben sie hervor, wie man Konflikte auch austragen kann. Die Delegationen tauschten Whisky- und Schnapsflaschen aus, um zu markieren, dass jahrelang kanadische und dänische Marinesoldaten abwechslungsweise die 1.3 Quadratkilometer kleine Insel «besetzten» – und dabei Hochprozentiges für das andere Land hinterliessen.
Die Arktis ist voller solcher nicht gezogener Grenzen. Denn die Nordpol-Region ist nicht aufgeteilt, wird aber gleichzeitig immer wichtiger, weil durch den Klimawandel zunehmend mehr Gebiete eisfrei werden. Dies ergibt Möglichkeiten für die Schifffahrt: Bereits heute nehmen Hunderte Schiffe aus Asien die im Vergleich zum Suezkanal kürzere Nordostpassage der sibirischen Küste entlang nach Europa.
Begleitet werden sie meist von Eisbrechern Russlands, das die meisten und stärksten hat – und im Gegensatz zu den USA und Kanada schon längst daran ist, die Flotte aufzurüsten. Denn Präsident Putin macht sich bereit, die Route zu kontrollieren – und dies bezieht sich nicht nur auf die Schifffahrt.
Der Kreml ist in Führung, was die Militarisierung der Polarregion angeht. «Wenn der Westen nicht Gegenmassnahmen trifft, wird die Arktis bald zum nächsten geopolitischen Schlachtfeld», sagt der britische Sicherheitsexperte Robert Clark. Laut ihm hat Russland in den letzten Jahren rund 50 arktische Stützpunkte wieder aktiviert oder neu eröffnet, darunter die nördlichste Luftwaffenbasis auf der Inselgruppe Franz-Josef-Land. Von dort, warnt der dänischen Geheimdienst, könnte Russland leicht die US-Basis Thule in Grönland angreifen.
Putin lässt regelmässig arktische Militärübungen durchführen und hat ein grosses Arsenal an modernen Raketen sowie Atomwaffen in den Norden verlegt. Er spricht auch seit Jahren davon, die Macht- und Gebietsansprüche Richtung Nordpol auszuweiten.
Dabei ist er nicht allein: Auch Kanada und Dänemark erheben Anspruch auf Meeresgebiete nördlich ihrer Küste beziehungsweise Grönlands. Wie Russland haben sie bei der UNO Forschungsberichte eingereicht, um zu beweisen, dass ihre Landmasse auf dem Meeresgrund eine Verbindung zum Nordpol hat. Denn damit hätten sie Anrecht auf Rohstoffe im Meeresboden, die in einer eisfreien Polarregion in den nächsten Jahrzehnten leichter zugänglich werden.
Dabei geht es um Metalle wie Blei, Nickel oder Zink, aber auch um Erdgas – um Bodenschätze im Wert von Milliarden. Dies war auch einer der Gründe, warum US-Präsident Trump 2019 plötzlich mit der Idee herausplatzte, er wolle Dänemark Grönland abkaufen.
Bis die Grenzkommission der UNO die Gesuche bezüglich Arktis behandelt, werden noch Jahre vergehen. Doch Russland hat seine Daten als Erstes eingereicht – entsprechend dürfte die Kommission sich auch zuerst dazu äussern, ob die russischen Ansprüche gut dokumentiert sind, erklärt der dänische Arktis-Experte Ulrik Gad. Es gebe durchaus Befürchtungen, dass sich Russland danach so aufführen werde, als ob es recht bekommen habe.
Dass Putin mit seiner aggressiven Politik dazu neigt, vollendete Tatsachen zu schaffen, weiss man unterdessen nur zu gut. Angesichts der enormen russischen Aufrüstung fordert der Sicherheitsexperte Robert Clark, Grossbritannien müsse sich schleunigst mit den USA und Kanada zusammentun, um in der Arktis mit viel stärkerer Präsenz Abschreckung zu betreiben: «Sie müssen die Arktis schützen und die russischen Expansionspläne stoppen.» (aargauerzeitung.ch)