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Der letzte Kaufrausch in Moskau

Der letzte Kaufrausch in Moskau

Westliche Firmen ziehen sich aus Russland zurück, die Läden in den Einkaufszentren machen dicht. Die Menschen stehen stundenlang Schlange, für Kaffee, Kleider, Kosmetik. Unsere Korrespondentin hat sich dazugestellt.
19.03.2022, 11:0119.03.2022, 11:01
Inna Hartwich, Moskau / ch media
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epa09817334 People stand in line at the clothing store Uniqlo in Moscow, Russia, 11 March 2022. As the result of sanctions imposed by the West on Russia, a number of brands such as McDonald's, Ik ...
Schlangestehen im Uniqlo-Laden in Moskau.Bild: keystone

Walentina schliesst die Augen. Für einen kurzen Augenblick ruft sie sich plötzlich die Vergangenheit in Erinnerung. «Der Geschmack des Herings, der war ganz unglaublich. Der leckerste Hering meines Lebens.» Sie macht die Augen wieder auf, ein kalter Schauer laufe ihr über den Rücken, sagt sie.

Es ist eine Vergangenheit, die Walentina längst überwunden zu haben schien. Sieben Stunden habe sie zusammen mit ihrer Mutter für den Fisch angestanden, als Heranwachsende in den 1990er Jahren. Der Hering, kurz vor Neujahr, ein traditionelles Gericht der russischen Feiertagsküche.

«Sieben Stunden! Nach so was schmeckt wahrscheinlich selbst der trockenste Hering wie der leckerste Kaviar.» Sie versucht zu lachen, schaut aber schnell zu Boden. Sie ist jetzt Mitte 40 und steht wieder in einer Schlange, den Korb in ihrer Hand voller Kleider, die Kasse weit weg. Alle paar Minuten macht sie einen Schritt nach vorn.

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Coca-Cola, Mc Donald's und Ikea machen dicht

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ziehen sich immer mehr westliche Firmen aus Russland zurück. Manche haben ihre Arbeit für vorerst einige Monate unterbrochen und zahlen ihren Mitarbeitern einen geringen Ersatzlohn, andere haben ihre Angestellten abgezogen und bieten ihnen im Ausland eine Stelle an. Autobauer wie BMW oder VW liefern nicht mehr nach Russland und wollen auch nicht mehr im Land produzieren.

Nestlé liefert nur noch Grundnahrungsmittel, Danone setzt alle Investitionen im Land aus, Coca-Cola stellt den Betrieb ein. Ikea, McDonald's, H&M, Starbucks, Adidas. Ihre Läden, die sonst die Shoppingmalls quer durch Russland füllten, sind nun dunkel.

Walentina, die nur in dieser Geschichte so heisst, wie jeder andere hier nicht seinen wahren Namen trägt, weil er sich nicht exponieren will, ist seit Tagen unterwegs. Im Zentrum sei der Laden, in den sie wollte, bereits zu. Im Süden habe er zu wenig Auswahl, nun nehme sie eben die Schlange im Westen der Stadt auf sich. Der Sohn habe am Tag zuvor fünf Stunden angestanden, sie hoffe auf schnelleres Vorankommen.

Ukrainische Star-Pianistin spielt ein letztes Mal auf ihrem Klavier – in Trümmern

Video: watson/Aya Baalbaki

Durch die Shoppingmall «Okeania», nicht weit vom Moskauer Siegespark entfernt, eilen die Menschen mit vollen Tüten aus Schuhgeschäften, sie stehen am Nespresso-Stand an und auch im Uniqlo, wie die Bankangestellte Walentina. Die japanische Freizeitbekleidungskette verkauft seit 2011 in Russland. Am 20. März machen die letzten Uniqlo-Geschäfte hier zu. «Ich mag diese Marke, es ist für mich auch ein Zeichen, dass wir ein ganz normales Leben führen können. Wie die Europäer, wie die Amerikaner, wie die Asiaten. Wie alle auf der Welt», sagt Walentina.

«Aber dieses normale Leben ist einfach hin. Mit einem Schlag. Ausgeführt von unserem Präsidenten.» Sie spricht leise, flüsternd fast. Öffentliche Kritik am Kreml ist gefährlich im Land. Doch in der Warteschlange werden aus Fremden spätestens nach 20 Minuten Anstehen Schicksalsgenossen. Sie unterhalten sich über ihre Sorgen, erzählen von den Kindern, den Katzen, von ihren Ängsten um die Zukunft.

«Warum bestraft uns der Westen dafür?»

«Nennen Sie die Dinge doch beim Namen: Russland führt Krieg gegen die Ukraine. Deshalb stehen wir doch alle hier», sagt Alexander. Offiziell müsste er «militärische Spezialoperation» sagen. «Warum bestraft uns der Westen dafür?», fragt seine Frau Irina. Sie haben Hosen in ihren Körben, T-Shirts für die Söhne, Unterwäsche.

Walentina sagt: «Die Jungen können mit den Schwierigkeiten, die auf uns alle bald zukommen, doch gar nicht umgehen. Für sie ist der Rückzug alles Westlichen ein Drama, sie sind damit aufgewachsen, dass ihnen alles offen steht, dass sie reisen können, sich weiterentwickeln. Jetzt kann mein Sohn sein Praktikum in einem internationalen Konzern nicht machen. Ob er in den Kampf eingezogen wird? Gott bewahre!»

Seit russische Panzer die Grenze zur Ukraine überquert haben, hat der Rubel fast die Hälfte seines Wertes eingebüsst. Die hohen Devisenreserven, mit denen die russische Notenbank den Rubel hätte stützen können, hat der Westen eingefroren. Die Inflation steigt rasant, Ökonomen rechnen bis spätestens April mit der Zahlungsunfähigkeit Russlands. Vorhandene Dollarreserven können die Russen nur noch in Rubel ausgezahlt bekommen. Manche Läden wechseln sie gar nicht mehr die Preisschilder aus. «Die Preise an der Kasse können andere sein als am Regal», steht da schlicht. (aargauerzeitung.ch)

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65 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Hierundjetzt
19.03.2022 11:08registriert Mai 2015
20 Jahre lang haben die Russen immer wieder Putin gewählt. Währenddessen hat er 5 Kriege durchgeführt.

2x gegen die eigene (!) Bevölkerung, Tschetschenien

Alle fandens toll.

Ich habe grösste Mühe um Mitleid zu empfinden.
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Mietzekatze
19.03.2022 11:26registriert Dezember 2015
Die Zivilisten in der Ukraine wurden ja auch nicht gefragt ob sie mit einem Krieg okay sind… so läuft das leider. Kriege werden immer auf den Schultern der Bevölkerung ausgetragen. Hätten die Russen wirklich eine Wahl gehabt, würde ich ja sagen jedes Land hat die Regierung die es verdient und trägt die Entscheidungen mit…
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Salvatore_M
19.03.2022 11:12registriert Januar 2022
Es wäre besser, die russischen Soldaten würden sich aus der Ukraine zurückziehen, als dass sich westliche Firmen aus Russland zurückziehen.
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    «Trump ist kein Diktator»
    Der US-Präsident überfordert die politische Konkurrenz, die Gerichte und auch die Medien mit immer neuen Entscheidungen. Einer der besten Kenner ist John Harris, Chefredaktor des amerikanischen Politmagazins «Politico». Ein Diktator sei Trump keineswegs, sagt er.

    Während der ersten Amtszeit von Donald Trump verzeichneten Newsportale – auch Ihr Medium «Politico» – einen deutlichen Anstieg bei Klickzahlen und Abonnements. Dieser Effekt würde sich bei einer Wiederwahl abschwächen, wurde erwartet. Ist das bislang der Fall?
    John Harris: Es gibt nach wie vor ein intensives Interesse an der Trump-Berichterstattung. Es liegt auf konstant hohem Niveau, und man beobachtet weniger Ausschläge als in der ersten Amtszeit, als die Zugriffszahlen stark schwankten. «Politico» setzte allerdings nie auf blosse Reichweite. Unser Fokus lag stets darauf, eine spezifische Zielgruppe zu erreichen – politische Entscheidungsträger in Washington oder anderen Machtzentren. Wir wollen den Wert unseres Journalismus über Abonnements oder gezielte Werbung monetarisieren.

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