International
Russland

Antikriegsbewegung in Russland – Protest gegen Putin ist gefährlich

Antikriegsbewegung in Russland – wie gefährlich es ist, gegen Putin zu protestieren

Die dreissigjährige Literatin Darja Serenko versuchte mit stillen, friedlichen Mitteln Widerstand zu leisten gegen die russische Kriegsdiktatur. Schon das war zu viel.
10.09.2023, 15:3910.09.2023, 15:42
Julian Schütt / ch media
Mehr «International»

Seit Putin die Ukraine überfallen hat, rätselt alle Welt über eine Unbekannte: den Widerstand in Russland gegen die Kriegstreiber. Darüber lässt sich nur wenig in Erfahrung bringen oder erst dann, wenn die Protestierenden im Gefängnis verschwinden oder geflüchtet sind - so wie die Antikriegsaktivistin und Schriftstellerin Darja Serenko.

Die Dreissigjährige war die Protagonistin der «stillen Proteste». In einer Aktion trug sie in der Moskauer Metro Plakate mit sich, auf denen politische und literarische Reflexionen zu lesen waren. Daraus entwickelten sich Gespräche mit Passanten.

Sie sass wegen angeblichem «Extremismus» im Gefängnis

Serenko erhielt Morddrohungen und sass schon im Februar 2022, noch bevor der Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begann, wegen angeblichem «Extremismus» im Gefängnis. Danach emigrierte sie nach Georgien, wo sich gegenwärtig verschiedene Kriegsgegner aus Russland aufhalten.

Bild

Nun erscheint Darja Serenkos Buch «Mädchen & Institutionen» auf Deutsch. Es versammelt Texte der Autorin, die vor und nach Ausbruch des Krieges entstanden sind. Sie nennt sie «Geschichten aus dem Totalitarismus» und fokussiert darin die Rolle der Frauen in der zunehmend von Gewalt beherrschten russischen Gesellschaft.

Die autoritären und martialischen Bocksgesänge schwellten an

Am Anfang stehen lakonische Berichte, die im November 2021 noch in Moskau erscheinen durften. Sie röntgen die patriarchale russische Arbeitswelt und Bürokratie in der Vorkriegszeit, als die autoritären und martialischen Tiraden anschwellen.

Das Klischee, das Frauen in Russland gleichberechtigt seien, stimmte schon in der Sowjetunion kaum, denn damals hatten sie gleichzeitig perfekte Arbeiterinnen, Mütter und Schönheiten zu sein, während die Männer nur als Arbeiter genügen mussten.

Daran hat sich wenig geändert. Frauen sind in öffentlichen Verwaltungen und in Unternehmen meist in den unteren Hierarchien tätig. Aber selbst in vermeintlich progressiven Kulturinstitutionen sind sie vor allem Mädchen für alles, die unter Intrigen, Misogynie und Chauvinismus zu leiden haben.

Darja Serenko nennt sie bewusst «Mädchen» und stellt sie als ein Kollektiv vor, denn die Frauen seien kaum als Individuen gefragt, sondern nur als «funktionales, vielarmiges und -beiniges Wesen». In diesem Kollektiv lasse sich ihre fragile gesellschaftliche Position leicht ignorieren.

Plötzlich wird eine Kamera im Büro installiert

Doch dann mehren sich die Signale, dass grosse Änderungen bevorstehen. Plötzlich wird von einem unscheinbaren Typen eine kleine Kamera im Büro installiert. «Die Kamera wurde zu einem weiteren Mädchen - wir behandelten sie wie eine lebendige, nicht sehr sympathische Kollegin, in deren Gegenwart man gewisse Dinge besser nicht sagte.»

Vor allem an festlichen Anlässen kommen die Mädchen mit den Männern in Kontakt. Diese bringen Toasts auf die Mädchen aus: «Auf die Frauen, ohne die die Welt homogen und homosexuell wäre!» Eines Tages wird den Mädchen eine Fotografie ausgehändigt, die sie nun vervielfältigen und in jedem Raum mit Publikumsverkehr aufzuhängen haben. Sie zeigt Wladimir Putin.

Es gibt nun einen «Tag der Staatsflagge», an dem die Mädchen die russische Flagge am Eingang anzubringen haben, und das gleiche müssen sie am «Tag der russischen Sprache» und an vielen anderen patriotisch aufgeladenen Tagen tun. Doch bei einem Anlass wird die Flagge gestohlen, und weil auf die Schnelle kein Ersatz aufzutreiben ist, holen die Mädchen einfach die alte sowjetische Flagge aus der Abstellkammer. Die Wirkung ist erstaunlich: Die Leute bleiben andächtig stehen, jemand salutiert vor ihr, eine alte Frau bekreuzigt sich.

Am «Tag Russlands» folgt der Höhepunkt: Die Mädchen müssen an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen, in Nationaltrachten. Allgemein haben sie so zu tun, «als verstünden wir nichts von Politik». Diese stereotypisierenden weiblichen Rollenbilder klingen karikaturesk, sind aber in den Vorkriegsjahren bittere Realität geworden.

Russinnen freuen sich über die Gewalt gegen Ukrainerinnen

Immer mehr Gewalt liegt in der Luft, wie Darja Serenko schreibt. Häusliche Gewalt ist seit längerem weitgehend entkriminalisiert. Und da die Menschen bereits in ihren vier Wänden mit einer Gewaltkultur leben, fällt es leicht, den Krieg zu rechtfertigen.

Auch ihre Landsfrauen, so Serenko, freuen sich über die Gewalt, die den Ukrainerinnen angetan wird. Sie glauben, es gebe sicher Gründe, warum die Frauen geschlagen, vergewaltigt und getötet würden. So sehr hätten die russischen Frauen das Leben mit Gewalt schon verinnerlicht.

Beeindruckend sind Darja Serenkos Gedanken über ihre Tage in Haft. Man habe sie eingesperrt, um die Aktivistin in der Aktivistin abzutöten und andere Frauen abzuschrecken. Sie versucht möglichst lieb zu sein, um niemanden aggressiv zu machen. Es gibt keinen Spiegel in der Zelle - «am Ende der ersten Woche hast du vergessen, wie dein Gesicht aussieht».

Wieder draussen, einen Tag nach Beginn der Invasion, gründet Darja Serenko die Feministische Antikriegsbewegung. Da weiss sie schon, dass sie Russland verlassen muss. In Zeiten des Krieges und der Diktatur wird dort nicht einmal mehr ihr stiller, friedlicher Widerstand mit Lyrik und Reflexionen toleriert. (bzbasel.ch)

Darja Serenko: Mädchen & Institutionen. Geschichten aus dem Totalitarismus. Aus dem Russischen von Christiane Körner, Suhrkamp, 192 Seiten.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Erkennst du alle Bücher an nur einem Bild?
1 / 32
Erkennst du alle Bücher an nur einem Bild?
quelle: watson / watson
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Gefangennahme per Drohne: Russischer Soldat flieht durch Niemandsland
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
30 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
@Jeff
10.09.2023 17:28registriert Juli 2023
Also Proteste von Regime- resp. Kriegsgegner werden konsequent unterbunden, man hat die Wahl zwischen Schweigen, Gefängnis/Gulag, Flucht oder Tod. Die Situation unterscheidet sich kaum von der Sowjetunion.

Die politische Kultur hat sich in 30 Jahren nicht weiter entwickelt, nur der Personenkult ist neu.

Bedenklich ist die Verehrung der Sowjetflagge - also nicht nur Putin wünscht sich das alte Reich zurück - und der Nationalismus mit dem unglaublichen Hass auf die Ukrainer (und wahrscheinlich dem ganzen Westen).

Eine grosse Gefahr für Europa während den nächsten Jahrhunderten!
610
Melden
Zum Kommentar
avatar
Pebbles F.
10.09.2023 16:58registriert Mai 2021
Danke, kluge Darja Serenko!
Sobald endlich jemand Putin und seine Speichellecker vernichtet, benötigt Europa Menschen wie D.S. für einen demokratischen Aufbau Russlands während der Wiedergutmachung in der Ukraine.
500
Melden
Zum Kommentar
avatar
Macca_the_Alpacca
10.09.2023 17:01registriert Oktober 2021
wie gefährlich es ist, gegen Putin zu protestieren? Na ich würde sagen auf Tee muss man verzichten, in Hotels nur noch im Erdgeschoss übernachten und die Unterhose würde ich auch immer gut waschen.
302
Melden
Zum Kommentar
30
Sechsjähriger Junge aus Niedersachsen seit Tagen vermisst – 800 Personen im Einsatz

Die Suche nach dem sechsjährigen Arian aus Bremervörde-Elm in Niedersachsen ist bis zum Samstagabend erfolglos geblieben. Eine neue Spur ist laut Polizei nicht entdeckt worden. Nun sollen am Sonntag rund 800 Einsatzkräfte nach dem Jungen suchen – und damit mehr als je zuvor, wie ein Sprecher am Abend ankündigte. Die Helfer werden demnach eine Suchkette bilden. Zehn Drohnen sollen aufsteigen

Zur Story