International
Russland

Russische Filtrationszentren inspizieren ukrainische Flüchtlinge genau

Wie Ukrainer in «Filtrationszentren» inspiziert werden – und was danach passiert

Fast drei Millionen Menschen aus dem besetzten Teil der Ukraine wurden bis jetzt nach Russland gebracht – darunter 400'000 Kinder. Der Kreml spricht von «humanitärer Hilfe», die Ukraine von «Deportation». Teil des Systems sind die «Filtrationszentren».
30.07.2022, 12:0930.07.2022, 12:36
Mehr «International»

Verhört, gefoltert, deportiert: In sogenannten «Filtrationszentren» bestimmt Russland über das Schicksal eines Teils der Bevölkerung der Ukraine. Dies zeigen Augenzeugenberichte und Angaben des US-Geheimdienstes. Doch was passiert in den Einrichtungen in der Ostukraine und in Westrussland wirklich? Eine Annäherung.

Moment, was sind diese «Filtrationszentren»?

Die Idee solcher Zentren ist alt. Sie stammt aus der Sowjetzeit. Kehrten Soldaten aus Kriegsgefangenschaft in die Sowjetunion zurück, wurde in diesen Einrichtungen überprüft, wer ein «Verräter» war und wer nicht, berichtet das ZDF.

Und dieses System wurde jetzt auch in der Ukraine eingerichtet?

Zumindest so ähnlich, ja. Gemäss verschiedener Medienberichte hat Russland im Osten der Ukraine mehrere solcher Zentren eingerichtet, in denen Menschen aus den besetzten Gebieten inspiziert werden.

Es gebe mindestens drei verschiedene Schicksale nach dem «Filtrationsprozess», schreibt die New York Times in einem Bericht:

  1. Personen, die als nicht bedrohlich eingestuft werden, erhalten Papiere und dürfen in den von Russland besetzten Gebieten bleiben. In einigen Fällen seien aber auch sie zwangsweise nach Russland deportiert worden.
  2. Andere, die als potenziell widerständig eingestuft werden, müssten mit einer Zwangsabschiebung nach Russland rechnen. Dort sollen dann weitere Kontrollen bevorstehen.
  3. Menschen, die als bedrohlich eingestuft werden – solche mit Verbindungen zum Militär und Sicherheitsdiensten – sollen in Gefängnisse in Russland und der Ostukraine verschleppt werden. Über das genaue Verfahren sei aber wenig bekannt.

Das russische Verteidigungsministerium sehe die «Filtrationszentren» und die Abschiebung der Ukrainer als humanitäre Hilfsaktion, schreibt die «Times» weiter. Nach Angaben der russischen Behörden wurden 2'795'965 Ukrainer nach Russland gebracht, darunter auch 444'018 Kinder.

Was passiert in diesen «Filtrationszentren»?

Mit Bussen werden die Menschen in die Zentren gebracht, wo sie untersucht werden. Die Daten ihres Handys werden laut Augenzeugenberichten durchleuchtet, Fingerabdrücke genommen. Gesucht wird nach Verletzungen, Tattoos und Waffen. Verhöre finden statt, berichtet das ZDF.

«Junge Frauen verschwinden. Sie alle wissen, was dort mit ihnen geschieht.»
Wolodymyr Selenskyj

Verschiedene Insassen beschreiben den Prozess in den Zentren als «invasiv und demütigend», schreibt die Welt. Zahlreiche Augenzeugen erzählen von Schlägen und Folter.

Die «New York Times» berichtet, dass mehrere Einwohner Mariupols in Zentren gestorben seien, nennt aber keine konkrete Zahl.

Wie viele Zentren gibt es?

Es sind bisher 18 mögliche Standorte solcher Zentren identifiziert worden. Es gibt laut einer Einschätzung der US-Geheimdienste aber mit ziemlicher Sicherheit weitere Anlagen, die noch nicht entdeckt wurden.

Der im Exil lebende Bürgermeister der Hafenstadt Mariupol, Wadym Bojtschenko, berichtet, dass es allein in der Nähe der Stadt mindestens vier «Filtrationszentren» gebe, in denen mehr als 2000 Menschen untergebracht seien.

Satellitenbild vom Dorf Benzimenne soll russisches Camp zeigen. (Maxa Technologies vom 22.März 2022)
Das «Filtrationszentrum» in Besimenne (22. März 2022).Bild: Maxar Technology

Eine russische Zeitung berichtet über ein solches Zentrum in Besimenne, einem Dorf in der Ostukraine. Das Zentrum solle «ukrainische Nationalisten daran hindern, als Schutzsuchende getarnt nach Russland einzudringen, um einer Bestrafung zu entgehen».

Was berichten die Zeugen?

Die New York Times konnte einige Personen interviewen, die in solchen Zentren kontrolliert wurden. Alle haben nach ihrem Aufenthalt in den Lagern Dokumente erhalten, dass ihre Fingerabdrücke überprüft worden seien. Danach sind sie über die Grenze an einen Bahnhof in der russischen Stadt Taganrog gebracht worden, von wo aus sie mit dem Zug in verschiedene Orte Russlands transportiert wurden. Manche waren laut dem Bericht neun Tage unterwegs.

Im russischen Fernsehen wurde die Aktion als «humanitäre Hilfe» porträtiert. Man versprach, den Flüchtlingen ein gutes Zuhause mit allem, was sie benötigen, zu geben. Die Interviewten sagen denn auch gegenüber der «New York Times», sie hätten zwar Essen, ein Bett und ein Dach über dem Kopf bekommen – aber sie seien nicht frei gewesen.

Ihnen gelang später die Flucht nach Estland. Das sind ihre Berichte:

Ludmilla

Ludmilla wurde zusammen mit ihrer fünfjährigen Tochter nach Russland gebracht. Von dort flüchteten sie dann nach Estland und leben nun auf einer Fähre.
Ludmilla wurde zusammen mit ihrer fünfjährigen Tochter nach Russland gebracht. Von dort flüchteten sie dann nach Estland und leben nun auf einer Fähre.Screenshot: Video New york times

Die Geschichte von Ludmilla beginnt in einem Keller in Mariupol, in dem sie sich versteckt hält. Russische Soldaten steigen herunter und drohen ihr: «Kommst du nicht mit, erschiessen wir dich.» Die Menschen in den Kellern teilen sich in drei Gruppen auf, um sicherzugehen, dass sie nicht erschossen werden. Sobald die erste Gruppe überlebt hat, geht die nächste Gruppe los. Ludmillas Tochter ist nach dem Monat im Keller sehr schmutzig. Ein russischer Soldat gibt dem Mädchen Brot. Ludmilla bedankt sich, aber weiss nicht, wie sie sich dabei fühlen soll.

«Danke wofür? Für die Zerstörung meines Zuhauses? Meines Lebens?»

Anschliessend wird Ludmilla in ein «Filtrationszentrum» ausserhalb von Mariupol gebracht. Dort angekommen, werden besonders die Männer überprüft, da diese Kämpfer sein könnten. Schliesslich wird Ludmilla in einen Ort nach Russland gebracht. Nach 20 Tagen an einem fremden Ort hat Ludmilla genügend Geld gespart, um ein Ticket für sich und ihre Tochter nach St.Petersburg zu kaufen. Von dort aus wird sie an die Grenze von Estland gefahren.

Edward

Edward habe eine schwere Verletzung erlitten, als seine Wohnung zerstört wurde.
Edward habe eine schwere Verletzung erlitten, als seine Wohnung zerstört wurde.bild: screenshot video new york times

Edward ist verwundet, als russische Soldaten ihn aufgreifen. Sie halten ihn aufgrund seiner Verletzung für einen Kämpfer. Er erzählt, wie drei grosse Soldaten Waffen auf ihn richten. Edward kann sich nicht mehr bewegen, so fleht er sie an, nicht zu schiessen, denn er sei verletzt. Eine Nachbarin kommt ihm zu Hilfe und schreit:

«Er ist verletzt! Er ist kein Soldat!»

Valeria

bild: screenshot video new york times
Valeria hat die längste Reise hinter sich. Sie war neun Tage unterwegs und wurde nach Chabarowsk gebracht, einer Stadt in der Nähe der Grenze zu China.Bild: screenshot video new york times

Valeria wird nach ihrer Ankunft in Russland «stark ermutigt», sich für eine russische Staatsbürgerschaft zu bewerben. Dafür müsste die junge Frau ihren ukrainischen Pass abgeben. Sie findet aber heraus, dass dies bedeuteten würde, dass sie die Stadt, in der sie untergebracht ist, für drei Jahre nicht verlassen darf. Valeria will dies nicht, sie möchte in die Ukraine zurückkehren.

>> Hier kannst du das ganze Video der «New York Times»
sehen: Surviving Russia’s Filtration Camps

Wie reagiert die Politik?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt: «Zehntausende Menschen werden in den Zentren festgehalten. Junge Frauen verschwinden dort. Ich denke, Sie alle verstehen, was dort mit ihnen geschieht.»

In einer seiner Videoansprachen meint Selenskyj: «Der richtige Name dafür ist ein anderer – das sind Konzentrationslager. Wie sie die Nazis gebaut haben.»

US-Aussenminister Antony J. Blinken forderte Russland auf, die Zentren zu schliessen: «Die rechtswidrige Verbringung und Deportation geschützter Personen ist ein schwerer Verstoss gegen die Vierte Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung und stellt ein Kriegsverbrechen dar», wird er in der «New York Times» zitiert.

(lab)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Therese ist Taxifahrerin – wir begleiteten sie für eine Nacht
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
24 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Lafayet, der gelöschte
30.07.2022 12:27registriert Juli 2022
Das ist identisch mit vielen Vorgängen im 2. Weltkrieg. Die nazis sind wieder da, nur sprechen sie diesmal russisch..

Putin wird niemals gewinnen, Deutschland hatte damals noch viel mehr erobert und ist trotzdem gescheitert.
875
Melden
Zum Kommentar
avatar
So oder so
30.07.2022 12:15registriert Januar 2020
«Filtrationszentren» ?

Konzentrationslager !!!
815
Melden
Zum Kommentar
avatar
Hösch
30.07.2022 14:29registriert März 2022
Stalin is back.
381
Melden
Zum Kommentar
24
Russland spricht über Eroberungen +++ Gazprom mit Milliardenverlust
Die aktuellsten News zum Ukraine-Krieg im Liveticker.
Zur Story