Auch wenn der öffentliche Fokus sich auf den Krieg in Israel verschoben zu haben scheint, verteidigt sich die Ukraine weiter im Krieg gegen Russland. Aus dem angegriffenen Land mehren sich die Meldungen über russische Angriffe. Offensivhandlungen der Ukraine scheinen hingegen seltener zu werden.
So griff Russland in der Region Donezk im Osten der Ukraine am Montag beispielsweise erneut die Kleinstadt Awdijiwka an. Bei einem russischen Raketenangriff auf Mirgorod nahe der zentralukrainischen Stadt Poltawa wurden nach offiziellen Angaben drei Personen verletzt, unter ihnen ein zehnjähriges Kind. Zudem gab es am Montagabend einen russischen Angriff mit Kampfflugzeugen im Bezirk Cherson in der Südukraine. Über Opfer lagen zunächst keine Angaben vor.
Tatsächlich geht die Initiative momentan vermehrt auf die russische Armee über, sagt Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR). Diese greife vor allem im Nordosten der Ukraine und rund um Awdijiwka vermehrt an. «Aber nicht bei allen Vorstössen ist Russland besonders erfolgreich», sagt Gressel im Gespräch.
Bereits seit einer Woche versucht Russland bei Awdijiwka im Osten der Ukraine vorzurücken. Eine besondere Bedeutung habe der Ort nicht, sagt Gressel. Beim Blick auf die Karte könne der Eindruck entstehen, der Ort sei einfach zu erobern, es sei «eine kleine Delle» in der Front, die Russland einfach umgehen könnte – dem sei aber nicht so.
«Auf der Karte sieht es zwar ähnlich wie die 'Delle' um Bachmut aus, aber die Gegend ist flacher», erklärt Gressel. Die Russen können von den umliegenden Hügeln nicht die Nachschubwege der Ukraine kontrollieren.
NEW: #Russia likely deployed elements of at least two Central Military District (CMD) brigades to reinforce offensive operations by #Donetsk People’s Republic (DNR) forces on the #Avdiivka front.
— ISW (@TheStudyofWar) October 16, 2023
Our latest: https://t.co/nudHxYJdT6 pic.twitter.com/HBRTRSJS4P
Sowohl für Russland als auch für die Ukraine sei es gegenwärtig schwierig, tiefere Einbrüche bei ihren Angriffen zu erzielen, so Gressel. Das liege an einer Kombination von «softwaregestütztem Artillerieeinsatz, omnipräsenten Aufklärungsdrohnen und raschem, dichten Panzerabwehrfeuer durch sogenannte Renndrohnen», sagt der Experte. Die Kombination aus allen drei mache es beiden Parteien unmöglich, grössere Einbrüche zu erzielen.
Zusätzlich sei das Gebiet deutlich von ukrainischen Minen durchzogen, die ebenfalls bewirkten, dass Russland rund um Awdijiwka bisher nicht viel erreicht habe.
Aber auch die Ukraine macht Gressel zufolge momentan keine grossen Gewinne: «Die Ukraine steht an mehreren Stellen unter Druck, sie muss Reserven für die Abwehr weiterer russischer Angriffe bereithalten.» Zudem habe Russland seine verbrauchten Einheiten ausgetauscht. «Die Ablöse der Soldaten ist eigentlich ein kritisches Moment, bei dem man gut angreifen kann», erklärt der Experte für Sicherheitspolitik. Auch die Ukraine müsste ihre Streitkräfte eigentlich zeitnah austauschen. «Da stellt sich aber die Frage: Wie viele Reserven haben die Ukrainer noch?», meint Gressel.
Hoffnung hat Gressel hingegen bei der Energieversorgung der Ukraine. Das Land sei in diesem Winter deutlich besser auf russische Angriffe auf die Infrastruktur vorbereitet als noch vor einem Jahr. Es wurden Generatoren und Material aus Europa in die Ukraine gebracht, die Ukraine habe neue Leitungen gelegt und habe «an vielen Orten noch Reserven, falls die Infrastruktur getroffen wird», so der Experte.
Zudem habe die Ukraine ihre Fliegerabwehr durch alte Flak-Geschütze verstärkt, die man mit Wärmebildgeräten und digitalen Datenempfängern nachgerüstet habe, so Gressel. Damit könne das Land die iranischen Shahed-Drohnen gut abwehren, mit denen Russland regelmässig Infrastruktur zerstört. Ausserdem seien sie in grösserer Zahl vorhanden als Raketensysteme, es können also mehr Objekte geschützt werden. «Aber wir wissen nicht, was Russland im wirklich kalten Winter noch macht», betont Gressel.
Ein Problem sieht der Experte im Moment auch in der fehlenden politischen Aufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine. Die westlichen Staaten müssen laut Gressel aktuell unter anderem mit der Ukraine, Israel, Armenien und dem Balkan auf mehrere Kriegsschauplätze gleichzeitig schauen – das sei schwierig und könne in Zukunft auch noch schwieriger werden. Russlands Präsident Wladimir Putin habe hingegen alleine die Ukraine als Ziel und könne sich auch vollkommen darauf konzentrieren.
Dennoch sieht Gressel aktuell noch keine Konkurrenzsituation für Waffenlieferungen zwischen Israel und der Ukraine. «Die benötigten Waffen der beiden Länder sind aktuell noch sehr unterschiedlich», so der Experte. Die Entwicklungen hingen allerdings stark davon ab, wie sich der Krieg in Israel weiter entwickelt. «Bei einem grossen Flächenbrand in Nahost könnte es bedeuten, dass entweder Israel oder die Ukraine mit Waffen beliefert werden», glaubt Gressel.