Dieses eine Missverständnis raubte ihm jahrelang die Ruhe. Eine ganze Nation war irritiert. In seiner Dankesrede für den Friedenspreis 1998 hatte Martin Walser gesagt, Auschwitz eigne sich nicht als Drohroutine, Moralkeule, Pflichtübung. Auschwitz werde leider instrumentalisiert. Er schaue öfters weg, wehre sich «gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande».
Harte Vorwürfe auf heikelstem Terrain. Das geplante Holocaust-Mahnmal mitten in Berlin bezeichnete er als «fussballfeldgrossen Albtraum». Später lobte er zwar dieses Mahnmal. Aber ein medialer Aufschrei ging durch Deutschland.
Man fragte sich: War Walser zum unbelehrbaren Nationalisten, zum Revanchisten geworden? Er, der in den 1960er-Jahren gegen den Vietnamkrieg protestiert, sich für die Wahl und die Entspannungspolitik Willy Brandts eingesetzt und für gewerkschaftlichen Widerstand gegen Pressezaren wie Berlusconi oder Axel Springer aufgefordert hatte?
Seine Wortwahl 1998 war unangemessen scharfzüngig, in seinem Vorwurf der Instrumentalisierung nannte er keine Namen, es blieb deshalb raunende Polemik. Nur: Kaum ein anderer Schriftsteller hat in den letzten 60 Jahren so viele kluge und grundlegende Dinge zu Deutschland geschrieben wie Martin Walser. Es schien sogar vergessen, dass er lebenslang über Auschwitz nachgedacht hatte, die Auschwitz-Prozesse 1963-1965 in Frankfurt als Beobachter beschrieben hatte, dass er tiefer als die meisten über die Schuldfrage und die politischen Lehren aus dieser Katastrophe geschrieben hatte.
Und dies nicht nur, weil er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs als Soldat in die Wehrmacht eingezogen worden war. Das Verurteilen der Folterknechte sei zwar juristisch nachvollziehbar, schrieb er schon 1965. Sie lenke aber zugleich ab: «In Auschwitz arbeitete unsere ganze Gesellschaft mit. Aber das ist eine Vorstellung, die wir nicht so gut ertragen», hielt er fest. Vor das Gericht hätten deshalb auch Konzernbosse und Richter gehört.
Walser meinte aber auch sich selbst: «Man ist Verbrecher, wenn die Gesellschaft, zu der man gehört, Verbrechen begeht. Die Frage, wie unter uns Wohlerzogenen plötzlich ein paar zu so etwas im Stande waren, können wir nicht wegdelegieren.»
Walser schrieb seine Bücher und Reden meist vom Bodensee aus, hier waren seine Wurzen. Oft hielt er sich auch in der Schweiz auf, er war bekennender Fan dieses Landes mit seiner liberalen Ordnung und fand zum Schrecken mancher Schriftstellerfreunde positive Worte zu Christoph Blocher («ein Monument der Richtigkeit»).
Mitte der Sechzigerjahre hatte er mit der Idee geliebäugelt, ein Grossstädter zu werden. Mit Ehefrau Käthe und den Töchtern wollte er umziehen - nach Berlin. Doch der Bodensee war stärker. Könnte man sich die Novelle «Ein fliehendes Pferd» am Wannsee spielend vorstellen? Einen Roman wie «Das Einhorn» im Ballungsraum Berlin? Nein, Martin Walser und der Bodensee gehörten zusammen.
Zeitlebens war er immer in Bewegung. Gern verwies Walser auf die 150 Reisetage im Jahr, die er bis ins hohe Alter wacker absolvierte, für Lesungen, Buchtaufen und Walser-Feierlichkeiten aller Art. Gemäss «Südkurier» verbrachte er seine letzten Stunden in seinem Haus am Bodensee, genauer im Überlinger Stadtteil Nussdorf.
Die sanft hügelige Landschaft, der Blick auf die «Glucke Säntis», der See, der «alles mitmacht, was der Himmel gerade will» - diese Umgebung prägte ihn und sein Werk. Hier hatte Martin Walser genügend Distanz zum Weltgeschehen, in das sich einzumischen er nicht müde wurde. Ob AfD oder Trump, Walser sagte seine Meinung. Anschliessend ging er schwimmen. Seiner Heimat blieb er treu. Und auch seiner Frau. Sieben Jahrzehnte mit derselben Frau verheiratet, vier Töchter, ein unehelicher Sohn, Jakob Augstein.
Noch im März dieses Jahres hatte Walser einen neuen Gedichtband herausgebracht. Öffentlich aufgetreten war er in den vergangenen Monaten nicht mehr, letztmals war dies vor rund einem Jahr der Fall, als er dem Deutschen Literaturarchiv seinen Vorlass übergeben hatte. (aargauerzeitung.ch)
Wieder ganz Aktuell! Und damit mein ich in erster Linie Russland aber bei weitem nicht nur!
„Man ist Verbrecher, wenn die Gesellschaft, zu der man gehört, Verbrechen begeht.“
Im speziellen denke ich hire an Russland, da versuchen doch etliche diesen Satz nicht "gelten" zu lassen und das ist grundlegend falsch.
Wie auch immer; RIP, Martin Walser. Mein Lieblingszitat: „Schreiben bedeutet für mich, etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist.“