Wenn in den Romanen von Jeremias Gotthelf über dem Emmental schwere Gewitterwolken aufziehen, dann sieht es bös aus für Ueli den Knecht. Das lernten wir in der Mittelschule.
So gesehen steht es nicht besonders gut um Ignazio Cassis, als am Montagvormittag EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Militärhelikopter in Lugano landet. Über der Stadt türmen sich schwarze Wolken auf, ein frischer Wind zieht durch die Gassen, Blitze zucken, Donnergrollen zieht über den See. Bald giesst es wie aus Kübeln. Ein schlechtes Omen für die Ukraine-Konferenz?
Als Cassis gegen 11 Uhr auf die Terrasse der prachtvollen Villa Ciani tritt, einem Gebäude in neoklassizistischen Stil aus dem 19. Jahrhundert, fallen noch letzte Regentropfen. Der Bundespräsident ist umgeben von seinen persönlichen Beratern, dem Kommunikationschef und einem Fotografen. Cassis ist angespannt. Das ist sogar über den Video-Livestream deutlich zu sehen, der ins Medienzentrum in der Aula der Università della Svizzera italiana übertragen wird. Journalisten sind von der roten Zone rund um das Kongresszentrum ausgeschlossen, wo sich die rund 1000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Konferenz versammeln.
Cassis hat viel politisches Kapital investiert in dieses Treffen. Ursprünglich sollte es eine weitere Ausgabe jener Reformkonferenzen werden, die sich schon seit mehreren Jahren mit der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der Ukraine befassen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine setzte dieses Vorhaben in Frage, obwohl die Konferenz in Lugano, seiner Heimatstadt, schon seit langem als einer der Höhepunkte in Cassis' Präsidialjahr auf der Agenda stand.
Es war nicht zuletzt der Druck der Regierung in Kiew, der Cassis und seine Entourage nach dem Angriff Russlands im April dazu bewegte, die Konferenz unter neuen Vorzeichen doch durchzuführen, sie dem Wiederaufbau zu widmen. Gegen Skeptiker im Parlament und selbst im Bundesrat.
Nun ist also der Tag gekommen. Zuerst fährt von der Leyen vor der Villa Ciani vor. Gegen Westen klart es allmählich auf. Es wird eine freundliche Begrüssung. Sie steht unter einem Schirm in kräftigem EU-Blau, Cassis unter einem grauen. Im Stream sieht man, wie der Tessiner Bundesrat die hohe EU-Vertreterin sodann in die Räume der Villa führt, ihr einige Bilder erklärt.
Das Paar setzt sich auf zwei Stühle, Cassis redet viel, auch mit den Händen. Von der Leyen hört zu. Das ist das im Voraus angekündigte bilaterale Treffen des Bundespräsidenten und der wichtigsten EU-Funktionärin. Es sieht aus wie Small Talk. Von dem, was die beiden reden, ist kein Wort zu verstehen. Über die bilateralen Beziehungen habe man nicht geredet, heisst es später. Darum geht es freilich auch gar nicht in diesem Moment: Es sind vor allem die Bilder, die zählen – Ignazio Cassis mit Besucherin vor wunderschöner Kulisse.
Ist man im Tessin dem Tessiner Bundesrat überhaupt dankbar für diesen Auftritt auf der Weltbühne? Mit der Gelassenheit eines Elder Statesman kommentiert der ehemalige Tessiner Nationalrat und langjährige FDP-Präsident Fulvio Pelli die Debatte in seinem Kanton: «Es gibt Leute, die schätzen, was Ignazio Cassis für das Tessin tut, Leute, die auch den Versuch schätzen, der Ukraine zu helfen. Und es gibt die ewigen Polemiker, die nur die Einschränkungen im Verkehr sehen und den grossen Polizeieinsatz.»
Zu diesen zählt Lorenzo Quadri, Nationalrat der Lega dei Ticinesi. In seinem Blog schrieb er bereits am Sonntag, Lugano werde «militarisiert und gepanzert» für eine Veranstaltung, die sich bereits als Misserfolg ankündige. «Wir werden nur noch die Rechnung bezahlen müssen.» Pelli denkt längerfristig: «Es ist richtig, dass die Konferenz in der Schweiz, im Tessin, stattfindet. Wo denn sonst?» Und was Cassis betrifft, den er einst förderte: «Ob ein Bundesrat gut ist oder schlecht, das sieht man stets erst zehn Jahre nach seinem Rücktritt.» Warten wir also ab.
Während auf der Vorderseite des Kongresszentrums gegen Mittag weitere kleine Delegationen eintreffen, treten Cassis und von der Leyen hinten auf der Seeseite nach ihrem Gespräch wieder auf die Terrasse. Diesmal, um gemeinsam den ukrainischen Ministerpräsidenten Denis Schmihal in Empfang zu nehmen. «It's a pleasure to have you here», begrüsst ihn Cassis und zeigt nach oben: «The weather is quite good now!» Einem Spaziergang zum Ufer des Lago di Lugano steht also nichts im Weg.
Ein Wortfetzen, verbreitet über den Videostream, lässt darauf schliessen, dass Cassis seinen beiden Gästen gerade erzählt, wie er als Teenager im See gebadet hat. Seine Anspannung ist verflogen.
Wenig später zieht sich von der Leyen zurück. Cassis und Schmihal, die gemeinsam als Gastgeber der Konferenz fungieren, begrüssen während der nächsten halben Stunde sämtliche Vorsteherinnen und Chefs der 52 Delegationen. Im Garten versammeln sich alle zum obligaten Klassenfoto. Die Sonne scheint, der erste Akt ist vorbei. Pannenfrei.
Selbstverständlich ist das nicht. Es gab Befürchtungen, dass sich Cassis von seinen Emotionen hinreissen lassen würde. Wie im März, als er an einer proukrainischen Kundgebung auftrat und Präsident Wolodimir Selenski als seinen guten Freund bejubelte, was ihm bis heute Kritik einträgt.
Offensichtlich hat er daraus gelernt. An der Eröffnungszeremonie im Plenarsaal richtet er klare Botschaften an die Anwesenden: «Was uns alle in diesem Saal verbindet, ist der Wunsch, dem ukrainischen Volk in dieser Zeit des Schreckens, der mutwilligen Zerstörung und der Trauer die Aussicht auf eine Rückkehr zu einem Leben in Selbstbestimmung, Frieden und einer strahlenden Zukunft zu geben.» Unmissverständlich verurteilt er «Russlands Akt der Aggression».
Deutlich nennt er aber auch, was er von der ukrainischen Regierung erwartet: dass der Wiederaufbau einhergehen müsse mit Reformen, «insbesondere bei der Bekämpfung der Korruption, der Verbesserung der Transparenz und der Unabhängigkeit der Justiz». Cassis redet Klartext unter Freunden – er ist nicht der naive Selenski-Fan.
Für seine Lugano-Konferenz hatte er sich zunächst wohl mehr Prominenz erhofft. Es muss ihn geschmerzt haben, dass neben Ursula von der Leyen keine Regierungschefs der obersten Liga angereist sind. Und dass auch Selenski lediglich mit einer weiteren seiner inzwischen schon fast alltäglich gewordenen Videoschaltungen auftritt. Nach aussen lässt sich Cassis freilich nichts davon anmerken.
Wie wichtig ihm jedoch die internationale Anerkennung ist, zeigt sich während der Rede von der Leyens. Sie bezeichnet die Lugano-Prinzipien, die am Dienstag verabschiedet werden sollen, als «ersten wichtigen Baustein für den Wiederaufbau der Ukraine», als Grundlage, auf der alle hier vertretenen Länder und Organisationen weiterarbeiten wollen. Und sie dankt Bundespräsident Cassis persönlich dafür, dies zu ermöglichen. Als darauf der ganze Saal applaudiert, ist die Rührung anzusehen, ein Zucken nur im Gesicht. Balsam für einen Vielgescholtenen im eigenen Land.
Und es kommt noch besser für Cassis. Am Nachmittag wird bekannt, dass nächstes Jahr eine zweite Ausgabe der «Ukraine Recovery Conference» stattfinden soll – nicht in irgendeinem Kleinstaat, sondern im Vereinigten Königreich. Lugano ist also keine Eintagsfliege, wie manche befürchtet haben, sondern jener «Kick-off», von dem Cassis' Diplomaten schon seit Wochen reden. Die britische Aussenministerin, Liz Truss, habe zu ihm gesagt, sie hoffe es so gutzumachen wie die Schweiz nun hier in Lugano, berichtete der Bundesrat später an einer Pressekonferenz vor den Schweizer Medien. «Ich habe gesagt: Warten wir noch bis zum Schluss!»
In der Tat: Noch steht der zweite Tag der Konferenz bevor. Die Lugano-Prinzipien sind nicht verabschiedet. Wie viele der 52 Delegationen diesen Grundsätzen für den Wiederaufbau der Ukraine zustimmen werden, wird wichtig sein für die Beurteilung der Konferenz.
Immerhin: Es ist Sonnenschein angesagt in Lugano, bei 32 Grad. Jeremias Gotthelf, übernehmen Sie!