Herr Annen, bei einem Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in der zentralukrainischen Stadt Krementschuk sind mindestens 20 Menschen ums Leben gekommen. Überrascht Sie dieser Angriff?
Hubert Annen: Aus psychologischer Sicht keineswegs. Es gab ja bereits verschiedene Angriffe, bei denen die Zivilbevölkerung das Ziel war. Das ist Bestandteil des Konflikts und ein Versuch, die ukrainische Bevölkerung zu ermüden, ihnen die Hoffnung zu nehmen. Dementsprechend kann dies als gezielter Angriff auf die Moral der Ukrainer interpretiert werden.
In letzter Zeit griff Russland vermehrt zivile Ziele an, die weit weg vom eigentlichen Kriegsgeschehen sind. Lässt sich eine Radikalisierung der Kriegsführung beobachten?
Durchaus. Russland hat mehr Waffen und mehr Soldaten, welche sehr oberflächlich mit Menschenleben umzugehen scheinen. Es ist fast schon eine logische Folge, dass sich die Kriegsführung in diese Richtung entwickelt.
Es ist also unausweichlich, dass Kriege mit fortschreitender Dauer immer grausamer werden?
Aus psychologischer Sicht schon. Der Vietnamkrieg ist ein anschauliches Beispiel. Die Verhaltensweise der amerikanischen Soldaten und die Rhetorik der Politiker ist über die Jahre immer radikaler geworden. Im Krieg werden Grenzen überschritten. Es gibt ein Zitat von Shakespeare aus Hamlet, welches dieses Phänomen treffend beschreibt: «Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen, dass, wollt' ich nun im Waten stille stehn, Rückkehr so schwierig wär', als durch zu gehn.»
Welche psychologischen Auswirkungen haben solche Angriffe auf die Zivilbevölkerung?
Sie geben ihnen das Gefühl, sich nirgends mehr sicher fühlen zu können. Keinen Rückzugsort mehr zu haben. Das kann einen stark auslaugen und den Widerstandswillen dementsprechend beeinflussen. Motivationspsychologisch gesehen ist das Fehlen eines Hoffnungsschimmers am Horizont nur schwer auszuhalten.
Ist nicht auch ein gegenteiliger Effekt möglich? Dass solche Angriffe die Menschen zusammenschweisst und die langsam eintretende Kriegsmüdigkeit durch eine erneut aufflammende Entschlossenheit ersetzt?
Das kann sein. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass man überhaupt Möglichkeiten hat, um zu reagieren. Die ukrainische Armee beklagt seit Monaten, zu wenig Kriegsmaterial zu haben. Auch liest man vermehrt davon, dass die Soldaten kriegsmüde sind.
Nicht nur kriegsmüde. Beide Seiten beklagen die Verluste ihrer besten Kämpfer. Welchen Einfluss hat das auf die Moral der Truppen?
Wenn in den eigenen Reihen Personen mit Vorbildfunktion fallen, kann dies natürlich die Moral der Truppe erheblich einschränken. Oder, wie Sie bereits angemerkt haben, kann dies auch eine Trotzreaktion auslösen. Das bedingt aber, dass Personen da sind, die diese Lücke füllen können.
Sie haben die Kriegsmüdigkeit angesprochen. Wie lange kann ein Mensch das Leben an der Front, unter Dauerbeschuss und Raketenhagel, aushalten?
Das hängt sehr stark davon ab, inwiefern die psychologischen Grundbedürfnisse gedeckt werden können. Gerade eine gute Kameradschaft in der Truppe kann dazu beitragen, solche Situationen sehr lang aushalten zu können. Das hat man in den Weltkriegen gesehen.
Gibt es noch andere Faktoren?
Diesbezüglich ist es im Krieg nicht grundsätzlich anders als im zivilen Leben: Gelegentlich muss ein Erfolgserlebnis her. Wir können Dinge ziemlich ausdauernd und gezielt verfolgen, wenn hin und wieder ein Triumph verbucht werden kann. In der Ukraine könnte ein solcher Erfolg etwa das Zurückdrängen einer Truppe sein. Es liegt an den Führungspersonen, dies dann auch richtig zu vermitteln.
Ich nehme an, Führungspersonen tragen allgemein eine grosse Verantwortung, wenn es um die Moral der Truppen geht.
Definitiv. Fürsorge ist hier elementar. Die Soldaten müssen spüren, dass sich ihr Vorgesetzter für sie einsetzt. Diese Fürsorge und Unterstützung muss aber auch von der Regierung und der Bevölkerung kommen. Das sieht man gut beim ukrainischen Präsidenten Selenskyj: Zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Worte zu finden, den Soldaten Orientierung bieten – das hat einen immensen Einfluss auf die Moral der Truppen.
Machen die Ukrainer das besser als die Russen?
Die Ukrainer machen das bestimmt gut. Weil sie um ihre Heimat kämpfen, haben sie generell schon einen moralischen Vorteil. Man sollte jedoch bedenken, dass auch Moral ihre Grenzen hat. Natürlich kann ein unterlegenes Fussballteam mit guter Moral gegen einen besseren Gegner gewinnen, aber wenn die Qualitätsunterschiede zu gross sind, bringt auch die beste Moral nichts mehr.
Russland scheint genau auf diese Karte zu setzen.
Die Russen setzen in der Tat auf eine andere Strategie. Sie klotzen mit ihrer Artillerie, mit Bombardierungen, mit ihrem Soldaten-Material, wenn ich das mal so nennen darf. Das ist eine ganz andere Herangehensweise, die uns vielleicht fremd erscheint, die aber auch zum Erfolg führen kann.