Von ihnen hat Deutschland nicht allzu viele zu bieten: Ehemalige Spitzenpolitiker, deren Stimme heute auch weit über die Landesgrenzen hinweg Gewicht hat. Joschka Fischer ist zweifellos einer dieser wenigen «Elder Statesmen», wie diese Gattung von Weltpolitikern gerne genannt wird.
Dass es einmal so weit kommt, hätte zu Fischers Jugendzeiten wahrlich niemand kommen sehen können. In den 70ern war er ein Linksradikaler. Fischer gehörte der militanten Gruppe «Revolutionärer Kampf» an und war selbst an Strassenschlachten mit der Polizei beteiligt. Gegen Ende des Jahrzehnts dann die Wandlung: Fischer schwor der Gewalt ab und ging in die Politik. Anfang der 80er schloss er sich den Grünen an. 1985 folgte das erste Ministeramt in Hessen – zur Vereidigung kam er in weissen Turnschuhen. 1998 wurde Fischer Aussenminister und Vizekanzler in der Regierung Gerhard Schröders.
Der Rat des 71-Jährigen ist gefragt. In Berlin hat Fischer eine Beratungsfirma, weltweit hält er Vorträge. In dieser Woche war er am Worldwebforum in Zürich zu Gast. Während seines Auftritts sorgte er für einen Lacher beim Schweizer Publikum: «Kommt bloss nicht in die EU», rief er den Anwesenden zu. «Wir haben schon genug Europaskeptiker!» Nach der Veranstaltung traf er die «Schweiz am Wochenende» zum Gespräch.
Eben auf der Bühne haben Sie der Schweiz energisch von einem EU-Beitritt abgeraten. Warum denn das?
Joschka Fischer: Ich mag die Schweiz, und ich möchte keinen Ärger haben. Das ist eine Entscheidung der Schweizer Stimmbürger.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU derzeit?
Entspannt und gut nachbarschaftlich.
Europa gibt aussenpolitisch aktuell nicht die stärkste Figur ab. Stimmen Sie zu?
Das hat Europa nie. Oder besser: selten. Es ist eine schwierige Zeit im Moment. Europa ist kein machtpolitischer Faktor, wo es ums Militärische geht. Seit Donald Trump ist das Verhältnis zwischen der EU und den USA, das für beide Seiten sehr wichtig ist, zudem schwierig geworden.
Nehmen wir die aussenpolitisch derzeit wohl brisanteste Situation: den Konflikt zwischen dem Iran und den USA. Europa hat hier keine wirkliche Rolle gespielt. Würden Sie sich wünschen, dass sich Europa stärker engagiert?
Nein, das würde ich so nicht sehen. Europa war in den langjährigen Verhandlungen über das Nuklearabkommen mit dem Iran von entscheidender Bedeutung. Die europäische Diplomatie wird sich nun darauf konzentrieren müssen, beide Seiten dazu zu bringen, vom Abgrund wegzugehen.
Die Schweiz hat im Iran-Konflikt eine Sonderrolle – sie vermittelt zwischen den beiden Seiten. Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz?
Positiv. Die Schweiz vertritt die Interessen der USA in Teheran seit langem. Sie verfügt über entsprechende Erfahrung. Das ist sehr positiv.
Wie gefährlich ist dieser Konflikt?
Sehr gefährlich. Sollte es zu einer heissen Konfrontation kommen, wäre das eine, die alles bisher Gekannte im Nahen Osten übersteigt. Das würde keine positiven Auswirkungen haben. Wir haben es im Irak gesehen, welche Konsequenzen ein Krieg hat. Das Land ist bis heute destabilisiert. Der Iran wurde durch den Irak-Krieg entscheidend gestärkt. Auch die Lage in Syrien wäre ohne den Irak-Krieg schwer denkbar. Ein offener Konflikt würde zu einer dramatischen Destabilisierung der Region mit enormen Folgewirkungen führen. Alle Parteien sind dazu aufgerufen, dass es so weit nicht kommt.
Die grössten Spannungen sind ja nun etwas abgemildert worden. Der Iran hat sehr verhalten auf die Tötung des Generals Soleimani reagiert. Ein Erfolg für Trump – vielleicht sogar sein aussenpolitisch grösster?
Es ist viel zu früh, das zu bewerten. Ich fürchte die Konfrontation. Vor allem aus europäischer Sicht hätte das gravierende Folgen. Als Europäer sind wir direkter regionaler Nachbar – ob in der EU oder nicht in der EU. Auch die Schweiz wäre davon betroffen. Es würde ein hohes Mass an Instabilität und Gewalt mit sich bringen. Was ich mich frage bei Donald Trump: Auf der einen Seite möchte er sich aus der Region zurückziehen, auf der anderen Seite schaltet er stark auf Konfrontation. Das ist ein Widerspruch, bei dem völlig unklar ist, wie sich die Entwicklung in Zukunft vollzieht.
Welche Motive könnten denn dahinter stecken?
Ich weiss es nicht.
Sie kennen die USA sehr gut. Was meinen Sie, gewinnt Trump die Wahl im Herbst?
Es ist nicht auszuschliessen, dass der jetzige Präsident wiedergewählt wird. Das wäre eine grosse Herausforderung für Europa.
Was meinen Sie mit Herausforderung?
Donald Trump ist alles andere als ein Freund der EU, im Gegenteil. Auch was aus der Nato wird, die für unsere Sicherheit von existenzieller Bedeutung ist, wäre völlig offen, um es ganz milde zu formulieren.
Sie haben eine Beratungsfirma. Was genau machen Sie bei Fischer & Company?
Ich mache gar nichts. Es ist ein Unternehmen mit mittlerweile 18 Leuten. Die Frage des ökologischen Umbaus erfordert Strategien. Viele Unternehmen sind damit überfordert und wollen kompetenten Rat. Den liefern wir. Das Zweite ist die Unsicherheit in der Aussenpolitik. Auch damit sind viele Unternehmen überfordert. Auch in dem Bereich beraten wir.
Wenn Siemens-Chef Joe Kaeser vorher gefragt hätte, ob er der Klimaaktivistin Luisa Neubauer einen Platz im Aufsichtsrat anbieten soll (den sie medienwirksam ablehnte, d. Red.) – hätten Sie ihm dazu geraten?
Es zu lassen.
Sie selbst haben, mit Verlaub, eine durchaus wilde Vergangenheit. Welche Rolle hätten Sie in der heutigen Klimabewegung gespielt?
Diese konjunktivischen Fragen sind nicht zu beantworten. Ich finde es gut, dass die jungen Leute das Thema sehr ernst nehmen und dafür auf die Strasse gehen. Sie verdienen dafür nicht Kritik, sondern Anerkennung.
Verglichen mit den Protesten zu Ihrer Zeit wirkt Fridays for Future doch harmlos. Setzen die jungen Leute auf die richtigen Mittel?
Ich finde das, wie gesagt, hervorragend. Schauen Sie, die Schweiz wird aufgrund ihrer geologischen Exponiertheit in den Zentralalpen unter dem Klimawandel erheblich leiden. Das ist absehbar. Dass jüngere Menschen eine längere Perspektive haben als jemand, der 71 ist wie ich, ist auch nachvollziehbar. Dass die anfangen zu fragen: Was wird denn mit der Zukunft, wenn es so weitergeht, halte ich für überaus legitim. Früher oder später werden sie das in Politik übersetzen. Die jungen Leute machen Erfahrungen, die ein Leben lang von Bedeutung sein werden. Sie machen es im demokratischen, rechtsstaatlichen Rahmen, das ist sehr wichtig.
Die Bewegung ist sehr auf Europa fixiert. Sollte man nicht viel eher die Emissionen in China oder Indien in den Fokus nehmen? Da wäre viel mehr zu machen.
Aus meiner Sicht ist es nicht nur ein Gebot der Solidarität, sondern auch der Klugheit und der eigenen Interessen. Wir werden mit der Technologie von heute morgen nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Es geht auch um die Zukunft der Arbeitsplätze. Der Umbau der Wirtschaft geht nur mit der Wirtschaft, aber er muss kommen. Da führt kein Weg daran vorbei.
Sie selbst waren Teil der ersten Grünen-Fraktion im Deutschen Bundestag. Heute ist die Partei in einigen Umfragen Nummer eins im Land. Hätten Sie sich diese Entwicklung damals träumen lassen?
Dazu hat meine Fantasie nicht ausgereicht, das gebe ich ehrlich zu. Das ist auch eine grosse Herausforderung für die Grünen. Aber ich bin mir sicher, sie werden sie bestehen.
Können Sie sich einen grünen Kanzler vorstellen?
Vorstellen kann man sich alles, aber dazu sage ich nichts. Wenn ich da jetzt Ja sage, dann sagen Sie gleich: Und, wer wird’s? Nein, dazu sage ich nichts.
Deutschland steuert auf das Ende der Ära Angela Merkel zu. Wagen Sie eine Bilanz?
Ich bin kein Historiker, und selbst wenn ich einer wäre, wäre das viel zu früh. In der Regel werden Bilanzen von Historikern nach Ableben des oder der Betreffenden gezogen, nicht vorher.
Was beim Blick nach Deutschland aus der neutralen Schweiz heraus auffällt, ist die extrem aufgeregte Diskussionskultur. Durch die sozialen Medien hat sich das noch verstärkt. Wie nehmen Sie das wahr?
Zunächst: Die Schweiz und Deutschland sind sich nah, aber sie haben eine sehr unterschiedliche Geschichte. Die Schweiz hat eine sehr glückliche, glorreiche Geschichte. Sie blickt ja nicht nur auf Neutralität zurück, sondern es war auch nicht einfach, gegenüber der Sogwirkung des Nationalismus im 19. Jahrhundert zu bestehen. Die Schweiz hat kluge Konsequenzen gezogen. Dazu bedurfte es auch eines kleinen Krieges: Der Sonderbundskrieg hat die föderale Schweiz, wie es sie heute gibt, geschaffen. Und die Bedingungen geschaffen, dass die Schweiz zusammen blieb und nicht ihre Teile zu den jeweiligen grossen Nationalismen gegangen sind. Dafür verdient die Schweiz echte Bewunderung. Das gilt auch für die direkte Demokratie – die allerdings nur in der Schweiz funktioniert.
Das Modell lässt sich nicht auf Deutschland übertragen?
Nein. Dazu ist die Tradition, die aus der Topografie der Schweiz entstand, zu besonders. Die abgeschiedenen Täler mussten für sich entscheiden. Es gibt eine ganz andere Tradition als in Deutschland. Insofern stellt sich die Frage nicht. Aber: Die Schweiz verdient viel Bewunderung dafür, dass sie auch in schwierigsten Zeiten wie im Zweiten Weltkrieg ihre Unabhängigkeit bewahrt hat. Das ging nicht ohne schwierigste Kompromisse. Deutschland dagegen ist gegenwärtig in einer schwierigen Rolle. Westdeutschland – und später das vereinigte Deutschland – war eigentlich ein Kind der USA. Dann kommt mit Trump ein Präsident, der einen Schlussstrich zieht. Plötzlich muss dieses Land Fragen beantworten, die es seit 1945 nicht mehr gewohnt war zu beantworten. Eine völlig andere Situation als die der Schweiz.
Gäbe es denn nicht einzelne Elemente aus dem politischen System der Schweiz, die sich Deutschland abschauen könnte, um die aufgeregten Debatten im Land abzukühlen?
In Baden-Württemberg und Bayern haben wir auf lokaler Ebene durchaus direktdemokratische Traditionen. Da lebt das. Direkte Demokratie bedarf einer langen Einübung, damit sie funktioniert.
Wie ist es denn insgesamt um die deutsche Demokratie bestellt?
Sie ist stabil, und sie wird stabil bleiben. Ein paar Aufgeregtheiten richten da keinen grossen Schaden an.
„Ich mache gar nichts.„
Köstlich!
Endlich mal ein Chef der dazu steht...
"Deutschland dagegen ist gegenwärtig in einer schwierigen Rolle. Westdeutschland – und später das vereinigte Deutschland – war eigentlich ein Kind der USA"