Von «beträchtlichen Fortschritten» und einer «Normalisierung des Verhältnisses» zwischen Serbien und dem Kosovo schrieben zahlreiche Medien zum Wochenstart. Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell twitterte euphorisch: «Wir haben einen Deal.» Selbst US-Aussenminister Antony Blinken verkündete, wie stolz die USA auf ihren Beitrag zum Zustandekommen der Vereinbarung seien.
We have a deal
— Josep Borrell Fontelles (@JosepBorrellF) March 18, 2023
Kosovo and Serbia have agreed on the Implementation Annex of the Agreement on the path to normalisation of relations
The parties have fully committed to honour all articles of the agreement and implement their respective obligations expediently and in good faith. pic.twitter.com/p3CUBdcd8A
The United States welcomes the EU-facilitated accord Kosovo and Serbia reached yesterday. We are proud to support the agreement and remain committed to advancing European and Euro-Atlantic integration.
— Secretary Antony Blinken (@SecBlinken) March 19, 2023
Drei Tage nach dem Treffen zwischen dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic und dem kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti ist von dieser Euphorie nicht mehr viel übrig. Der nachfolgende Frage- und Antwortkatalog zeigt, was im nordmazedonischen Ohrid erreicht worden ist und was nicht.
Nach der 13-stündigen Besprechung stimmten Kosovo und Serbien immerhin mündlich einer Vereinbarung zu, die den schwerfälligen Titel «Implementation Annex to the Agreement on the Path to Normalisation of Relations between Kosovo and Serbia» trägt; also ein Zusatzabkommen zum EU-Normalisierungsvertrag, der in seiner endgültigen Form Ende Februar in Brüssel publiziert wurde.
Dieses zuvor als «deutsch-französischer Kosovo-Plan» bekannt gewordene Abkommen soll die künftigen Beziehungen zwischen Serbien und der von ihm nicht anerkannten Republik friedlich regeln.
Der Durchsetzungs-Annex besteht wie der eigentliche Normalisierungsvertrag aus elf Artikeln, mit dem sich beide Seiten hauptsächlich zum «guten Willen» verpflichten. Einer der wenigen konkreten Punkte ist, dass beide Seiten innerhalb von 30 Tagen einen gemeinsamen Monitoring-Ausschuss bilden, der den Zustimmungsprozess überwachen wird.
Mit Zuckerbrot und Peitsche. Im Durchsetzungs-Zusatz verspricht die EU, innerhalb von 150 Tagen eine Geberkonferenz zu organisieren, die für Serbien und Kosovo beträchtliche Geldmittel zur Finanzierung einer gemeinsamen Wirtschaftsentwicklung, zum Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und für Klimaschutz-Projekte bereitstellen soll.
Allerdings, so steht es weiter in der Vereinbarung, fliesst das Geld erst dann, wenn beide Seiten sämtliche Punkte im Normalisierungsprozess erfüllt haben. Verstösse gegen einzelne Punkte hätten zudem «direkte negative Auswirkungen auf den EU-Beitrittsprozess», droht die Europäische Union.
Aleksandar Vucic betonte nach der Konferenz, dass es zwar Gespräche in konstruktiver Atmosphäre gewesen wären, er aber unter keine Vereinbarung seine Unterschrift gesetzt habe.
In einem TV-Interview legte Vucic nach: «Ich habe unerträgliche Schmerzen in meiner rechten Hand, und nur mit dieser Hand kann ich unterschreiben. Diese Schmerzen werden die nächsten vier Jahre andauern.» Was ein deutliches Zugeständnis an jene nationalistischen Kreise war, die am Wochenende in Belgrad zu Zehntausenden für einen serbischen Kosovo demonstrierten.
Serbien werde unter ihm weder den Kosovo als Staat anerkennen, noch dessen UNO-Mitgliedschaft zustimmen, wiederholte der Präsident in einem weiteren Interview am Dienstag. Trotzdem werde sich Belgrad an die Erfüllung der Punkte im Durchsetzungs-Zusatz machen, vollzog Vucic seinen üblichen Spagat. Dies, obschon er nicht glaube, dass Kurti seiner Kernbedingung - der Bildung eines serbischen Gemeindeverbands im Nord-Kosovo - zustimmen werde.
Zur gleichen Zeit wurde Kurti von der Opposition in Pristina scharf dafür angegangen, dass er ein weiteres Mal ohne serbische Unterschrift von einer Verhandlungsrunde zurückgekehrt ist.
Obschon der Kosovo, was Serbien stets bitter beklagt, die Unterstützung der US- und EU-Aussenpolitik auf seiner Seite weiss, gibt sich Ministerpräsident Albin Kurti in der Frage des serbischen Gemeindeverbandes unnachgiebig. Zu gross ist die Angst in Pristina, dass analog zu den Vorgängen im Bosnienkrieg ein solcher Gemeindeverband den Kern eines serbischen Kosovo-Staates bilden könnte, der die junge Republik spaltet und schlimmstenfalls sogar in einen offenen Bürgerkrieg verwickelt.
Mit «Wir sind doch nicht blöd» quittiert Kurti deshalb jeweils Aufforderungen an seine Seite, hier entgegenkommend zu sein. Solange sich aber Kosovo in der Frage des serbischen Gemeindeverbands nicht kompromissbereiter zeigt, kann Serbiens Präsident Vucic mit einer gewissen Berechtigung betonen, dass auch Kurti nicht alle EU-Vorgaben einhalten will.
Es ist offensichtlich, dass Serbiens Präsident Vucic in der Kosovo-Frage auf Zeit spielt. In einem früheren Interview hat er deutlich gemacht, wie gross der Druck der USA und EU ist, der derzeit auf Serbien ausgeübt wird. Der Westen wolle während des Ukraine-Krieges «Ruhe im Hinterzimmer auf dem Balkan haben», sagte Vucic sinngemäss, und da müsse sich Serbien bis auf weiteres dem Recht des Stärkeren beugen.
Also wartet der serbische Präsident auf eine aus seiner Sicht günstigere politische Grosswetterlage, in der das befreundete Russland gestärkt aus dem Ukraine-Krieg hervorgeht und seinen Einfluss auf dem Balkan wieder vermehrt geltend machen kann.
Dann könnte Russland, flankiert vom Grossinvestor China, auf Stufe UNO nicht nur weiterhin den Beitritt des Kosovo mit seiner Veto-Drohung im Keim ersticken, sondern auch eine restriktivere Kosovo-Politik befeuern, die viel eher im Sinne Belgrads wäre als der aktuelle Normalisierungsplan der EU. (aargauerzeitung.ch)