Wenn man dem Generalstab in Kiew glauben darf, ist den Ukrainern bei ihrer zweiten Gegenoffensive ein wichtiger Durchbruch gelungen. Südöstlich der Stadt Charkiw seien demnach rund 20 Ortschaften zurückerobert worden. Die Streitkräfte hätten einen Keil von etwa 50 Kilometern Tiefe in die von Russland besetzten Gebiete getrieben und dabei die Stadt Balaklija eingenommen.
Eine unabhängige Bestätigung dieser Erfolgsmeldungen fehlt noch, doch geben auch russische Quellen in den sozialen Medien zu, dass der ukrainische Überraschungsangriff zumindest anfänglich rasch vorangekommen sei.
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Noch weiter südöstlich gelang den Ukrainern nach eigenen Angaben die Überquerung des wichtigen Donez-Flusses in der Nähe der Stadt Slowjansk. Damit versuchen Kiews Streitkräfte, ein grosses Gebiet mit den wichtigen russisch besetzten Logistikzentren Izium und Kupjansk in die Zange zu nehmen. Laut dem ukrainischen Generalstab wurden bisher rund 700 Quadratkilometer zurückerobert. Selbst wenn das stark übertrieben wäre, würde es sich dennoch um einen der rasantesten Vorstösse der letzten Monate handeln.
Warum ist das wichtig? Ende August haben die Ukrainer im Süden bei der russisch kontrollierten Provinzhauptstadt Cherson eine erste Grossoffensive gestartet. Weil dieser Angriff seit Wochen erwartet wurde, haben die Russen einen Teil ihrer Truppen, die vorher im Osten kämpften, nach Cherson und damit auf das aus ihrer Sicht exponierte westliche Ufer des Dnjepr verlegt. Seither haben die Ukrainer die Brücken über den Dnjepr unbrauchbar gemacht und die Russen bei Cherson teilweise vom Nachschub abgeschnitten.
Mit der Offensive im Süden hat die ukrainische Armeeführung einen Teil der russischen Kräfte im Osten, also auch in der Umgebung von Charkiw, in eine ungünstige Position im Süden des Landes gelockt – möglicherweise in eine Falle.
Russian paratroopers unit red flag being lowered in Nova Husarivka, Kharkiv region by 1st Special Forced Brigade named after Ivan Bohun. pic.twitter.com/jwgZPxhXNw
— Taras Berezovets (@TarasBerezovets) September 7, 2022
Der Überraschungsangriff bei Charkiw wurde offenbar von starken gepanzerten Kräften vorgetragen, darunter auch von Polen gelieferte Kampfpanzer.
Um zu verstehen, welche Bedeutung der tiefe Vorstoss bei Balaklija hat, muss man die Topografie kennen: In der Ukraine gibt es ausser im Westen und auf der Halbinsel Krim keine Berge. Die einzigen natürlichen Hindernisse sind Flüsse und Sumpfgebiete. Bei der neuen Gegenoffensive spielen die Flüsse Donez und Oskil eine entscheidende Rolle.
Den jüngsten Angriff starteten die Ukrainer vom Ostufer des Donez, der sonst über weite Teile den Frontverlauf markiert. Mit dem Vorstoss versuchen die Ukrainer, die Stadt Izium vom Hinterland abzuschneiden, dem wichtigsten russischen Vorposten für Angriffe auf den nördlichen Donbass. Ziel dürfte es sein, bis zum Oskil-Fluss bei Kupjansk vorzudringen, um alle Nachschublinien nach Izium zu blockieren.
В центре Балаклеи pic.twitter.com/Aafd4sRCwA
— bamr (@bamr69) September 8, 2022
Sollte das den Ukrainern gelingen, wären die russischen Truppen dort in einer ähnlich misslichen Lage wie ihre Kameraden im Süden: Sie würden auf der falschen Seite eines Flusses kämpfen, dessen Brücken die Ukrainer mit ihren amerikanischen Himars-Raketen jederzeit zerstören könnten.
Sollte dieser Plan gelingen, wäre eine desaströse russische Niederlage absehbar. So weit ist es aber noch lange nicht. Kupjansk liegt noch in einiger Entfernung, und bei einem tiefen Vorstoss in feindliches Gebiet exponieren die Ukrainer unter Umständen ihre Flanken. Ausserdem weiss man nicht, ob und wann die Russen Reserven an diese Front werfen.
Das Vorhaben, erhebliche russische Verbände zwischen den Flüssen Donez und Oskil einzukesseln, ist jedoch ein ähnlich ambitionierter und ausgeklügelter Schachzug wie jener der Ukrainer bei Cherson.
Ich hoffe die Ukraine ist richtig erfolgreich!
So oder so ist es unglaublich, was den Ukrainern schon gelungen ist. Weiter so!
So wird David den Goliath in die Knie zwingen.