In der Ukraine wird nicht nur mit Waffen gekämpft, sondern auch mit Informationen. Dazu gehört, dass sich Russland und die Ukraine gegenseitig der abscheulichsten Kriegsverbrechen beschuldigen.
Und: Egal ob beim Massaker in Butscha, dem zerbombten Theater in Mariupol oder nun dem zerstörten Gefängnis in Oleniwka, die Anschuldigungen verlaufen nach dem immer gleichen Muster.
Den Informationskrieg am Beispiel Oleniwka gezeigt:
Was wirklich in Oleniwka passiert ist, ist noch weitgehend nebulös, da unabhängigen Beobachtern und Journalisten noch kein Zugang zum zerstörten Gefängnis gewährt wurde. Wobei hier betont werden muss, dass bereits jetzt fast alle der russischen Behauptungen von internationalen Organisationen widerlegt werden konnten. Einigkeit zwischen Russland und der Ukraine herrscht bislang nur über zwei Punkte:
Während die tatsächlichen Vorgänge in Oleniwka also noch ungeklärt sind, wird im Informationskrieg ganz klar gesagt, was passiert ist: Kriegsverbrechen wurden vertuscht beziehungsweise begangen.
Bei vielen grossen und medienwirksamen Anschlägen haben sich Russland und die Ukraine gegenseitig die Schuld für den Anschlag gegeben. Internationalen Organisationen gelingt es normalerweise zwar innert weniger Tage oder Wochen zu belegen, dass der Anschlag durch die russische Armee ausgeübt wurde. Doch zu diesem Zeitpunkt sind die Beschuldigungen Russlands, dass die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten die jeweilige Gräueltat begangen haben, bereits im Netz und in den prorussischen Medien gestreut.
Auch im Fall Oleniwka war das so: Als erster Offizieller informierte Daniil Betsonow, stellvertretender Informationsminister der DNR, über die Zerstörung des Gefängnisses. Und bereits in dieser ersten Kommunikation wird der Ukraine der Schwarze Peter zugeschoben, für den Anschlag verantwortlich zu sein.
Am frühen Morgen des 29. Julis schrieb Betsonow auf seinem Telegram-Kanal:
Etwa gleichzeitig berichtete die russische staatliche Nachrichtenagentur Ria Novosti von einem Anschlag in Oleniwka. Hier wird von einer «bewaffneten Formationen der Ukraine» geschrieben, die «mit 152-mm-Granaten» einen Anschlag ausübten. Die Verwendung von russischen Himars-Raketen oder Kriegsgefangene werden dabei allerdings nicht erwähnt.
Leonid Slutsky, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für internationale Angelegenheiten, sagte gegenüber der Nachrichtenagentur Ria Nowosti, dass die öffentliche Meinung über das Geschehen in Oleniwka in den westlichen Ländern bereits auf Fake News und vorsätzliche Verfälschung von Tatsachen beruhen würde – und Russland nicht in den Vorfall verwickelt sei.
Dieses Vorgehen ist ein Muster im russischen Informationskrieg: Beim Luftangriff auf das Theater in Mariupol, bei dem hunderte von Zivilisten starben, bestreitet das russische Verteidigungsministerium, auch nur irgendetwas mit dem Anschlag zu tun zu haben – und beschuldigt dafür das Regiment Asow, das Theater in die Luft gesprengt zu haben. Seitens unabhängiger Stellen konnte klar aufgezeigt werden, dass der Angriff von der russischen Armee ausgeführt wurde.
Beim Massaker von Butscha beschuldigte Russland die Ukraine der Tat – genauso wie die USA, die Nato oder Grossbritannien. Die Behauptungen Russlands konnten minutiös widerlegt werden. Im internationalen Diskurs ist man sich einig, dass Infanteriebrigaden der russischen Armee verantwortlich sind für das Massaker von Butscha. Doch Russland hat trotzdem Ermittlungen aufgenommen – nicht wegen mutmasslicher Verbrechen, sondern wegen der Verbreitung angeblicher Falschmeldungen.
Das Töten von Kriegsgefangenen wird von den Genfer Konventionen als Kriegsverbrechen eingestuft. Denn im humanitären Völkerrecht gilt der Grundsatz, dass Gegner, die nicht mehr in der Lage sind zu kämpfen, sowie Kriegsgefangene während eines bewaffneten Konflikts geschützt werden müssen.
Im Fall von Oleniwka war bereits um kurz vor 11 Uhr am 29. Juli zum ersten Mal von Kriegsverbrechen die Rede: In einer Telegram-Nachricht auf dem Kanal der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti äussert sich das russische Verteidigungsministerium in einem Briefing zum Vorfall. Darin wird der Vorwurf laut, dass seitens der Ukraine ein Kriegsverbrechen begangen wurde, da Kriegsgefangene absichtlich getötet worden seien:
Am Ende der Botschaft wird gesagt, dass «das Verbrechen untersucht werde» von den russischen Behörden.
Der ukrainische Generalstab reagierte postwendend auf diese Anschuldigung – und wies sie zurück. In einem Facebook-Post schrieb der ukrainische Generalstab um 11:45 Uhr, dass Russland die Gefangenen getötet habe, um «der Ukraine Kriegsverbrechen vorzuwerfen».
Am Abend des 29. Julis thematisiert der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyj in seiner allabendlichen Ansprache den Angriff auf das Gefängnis. Er spricht bereits im zweiten Satz von einem «russischen Kriegsverbrechen». Selenskyj verlangt in seiner Rede eine internationale Untersuchung der Geschehnisse in Oleniwka. Eine Expertengruppe der Vereinten Nationen sowie das Rote Kreuz haben allerdings noch keinen Zugang zum Straflager erhalten.
Der Vorwurf, Kriegsverbrechen zu begehen, wird immer wieder geäussert. Zum Beispiel sagte Wolodymir Nikulin, ein hoher ukrainischer Polizeibeamter, noch in den Trümmern der Geburtsklinik, die Anfang März in Mariupol durch die russische Armee zerbombt wurde:
Als einer der Ersten kam der rechtsradikale ukrainische Politiker Andrij Bilezkyj auf Telegram auf das Motiv «Vertuschen von Kriegsverbrechen» zu sprechen – und zwar bereits am 29. Juli. Seine Behauptung: Die russische Armee habe das Gefängnis zerstört, um zu verhindern, dass bewiesen werden könnte, dass die Kriegsgefangenen gefoltert wurden. Er bezieht sich dabei auf ein Video, das seit letzter Woche kursiert und zeigen soll, wie russische Soldaten ukrainische Kriegsgefangene vor laufender Kamera kastrieren.
Und das ukrainische Verteidigungsministerium sieht das Vertuschen von Kriegsverbrechen als Motiv für den Anschlag. In seinem Facebook-Post von 29. Juli schreibt das Ministerium, dass die russische Armee versucht, «die Folter von Gefangenen und die dort durchgeführten Hinrichtungen zu verbergen» – und das Gefängnis darum zerstört habe.
Doch auch die russische Seite verlautbart den Vorwurf, dass mit dem Angriff auf das Gefängnis versucht worden sei, Kriegsverbrechen zu vertuschen – allerdings solche, die von der Ukraine begangen worden seien. So sei der Angriff ein bewusster Versuch seitens der Ukraine gewesen, die Gefangenen davon abzuhalten, über die «Gräueltaten der Asow-Kämpfer auszusagen, die an Zivilisten begangen wurden», sagte der stellvertretende russische Verteidigungsminister Aleksandr Fomin gegenüber dem russischen Staatsfernsehen Russia Today.
Aus der Sicht von Moskau verdienen die Asow-Gefangenen zwar den Tod – da sie im russischen Verständnis Nazis und Terroristen sind –, doch sie verdienten den Tod per Strang. Denn das sei entwürdigender, als wenn man von einem «Erschiessungskommando» getötet werde. Das twitterte zumindest die russische Botschaft in Grossbritannien:
💬#Azov militants deserve execution, but death not by firing squad but by hanging, because they’re not real soldiers. They deserve a humiliating death.
— Russian Embassy, UK (@RussianEmbassy) July 29, 2022
A married couple from #Mariupol tell how they were shelled by 🇺🇦forces from #Azovstal. #StopNaziUkraine https://t.co/jyQGEOJFYz
Diese Taktik ist altbekannt im Informationskrieg: Im April beschuldigte der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Bojtschenko, russische Kollaborateure, dass sie in mobilen Krematorien Leichen verbrennen würden, um Kriegsverbrechen der russischen Armee an Zivilisten zu vertuschen. Auch das britische Verteidigungsministerium erwähnte später den Einsatz von mobilen Krematorien durch die russische Armee.
Auch das Bildmaterial ist Teil des Informationskriegs – und im Fall von Oleniwka ist Russland zurzeit klar im Vorteil.
Bei den meisten grossen Anschlägen konnte die internationale Presse eigenes Bildmaterial produzieren oder hatte verifizierbares Bildmaterial von ukrainischer Seite. In Oleniwka war das bislang nicht der Fall, da internationale Journalisten oder Beobachter noch keinen Zugang zum zerstörten Gefängnis hatten. Sie hatten lediglich die Möglichkeit, Satellitenbilder auszuwerten.
Am Vormittag des 29. Julis durften russische Korrespondenten den Ort des Anschlags betreten. Im Anschluss des Besuchs veröffentlichte Andrei Rudenko, ein Mitarbeiter der staatlichen Fernseh- und Rundfunkgesellschaft, ein Video aus dem Inneren des Gefängnisses. Rudenkos Video wird noch am 29. Juli per staatliche Fernsehkanäle geteilt, unter anderem strahlt России 1 die Bilder aus. Die Bilder werden später auch von den westlichen Medien geteilt.
Wie wichtig die ersten Bilder im Informationskrieg sind, zeigte sich im Fall der zerbombten Geburtsklinik in Mariupol. Die ersten Bilder in und um die Geburtsklinik wurden alle von einem Presseteam der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) aufgenommen. Die Empörung im Westen war riesig, nachdem Bilder von schwangeren Frauen in den Medien geteilt wurden, die teilweise blutverschmiert und teilweise zu schwach zum Gehen waren.
Nur einen Tag nach dem Anschlag behauptete der russische Aussenminister, Sergei Lawrow, dass es sich bei den Bildern um eine Inszenierung der Ukraine handle. Auch das konnte eindeutig widerlegt werden: Der Angriff auf die Geburtsklinik wurde von russischer Seite begangen, die Bilder sind nicht inszeniert.
Es wird wohl noch eine Zeit dauern, bis ins Detail klar ist, was in Oleniwka tatsächlich vorgefallen ist. Wobei aufgrund der bislang von unabhängigen Stellen ausgewerteten Indizien ganz klar davon auszugehen ist, dass der Anschlag von russischer Seite durchgeführt wurde. Doch die Schlacht im Informationskrieg wird weiter geführt – nach immer denselben Mustern.
(yam)