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Ukraine: 3 Dinge, die die russische Propaganda von Butscha entlarven

Entlarvt: 3 russische Propaganda-Lügen aus Butscha – und was dahinter steckt

07.04.2022, 14:2707.04.2022, 15:52
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Dutzende Leichen wurden in den letzten Tag im Kiewer Vorort Butscha dokumentiert – einige davon mit gefesselten Händen. Die Ukraine macht für die vielen Toten in Butscha russische Truppen verantwortlich. Satellitenaufnahmen und abgefangene Funksprüche verhärten den Verdacht. Auch zeichnen Zeugenaussagen, die Journalisten vor Ort aufnehmen konnten, ein deutliches Bild: Die russische Armee hat wohl ein Massaker angerichtet in Butscha.

Triggerwarnung
In diesem Artikel geht es um Verstorbene im Ukraine-Krieg. Der Text enthält Bilder mit Leichensäcken, Blut und toten Körpern – aber keine identifizierbaren Gesichter. Bei manchen Menschen können diese Bilder negative Reaktionen, Flashbacks oder Traumata auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Nicht erst seit dem Ukraine-Krieg müssen sich Medien mit der Frage auseinandersetzen: Darf man die Toten und ihre Gesichter zeigen? Auch watson hat sich dieser Debatte gestellt. Medienwissenschaftler Christian Schicha hält fest: «Die wichtigsten Aufgaben von Journalistinnen und Journalisten ist zu zeigen, was passiert.»

Russlands Reaktion auf die Vorwürfe: abstreiten, zurückweisen, Nebelkerzen legen. Gemein ist allen Aussagen, dass eine Verantwortung der (pro)russischen Seite für mögliche Kriegsverbrechen ausgeschlossen wird.

Das kremlkritische Newsportal Mediazona hat Behauptungen Russlands zu den Toten von Butscha durchleuchtet, drei davon werden im Folgenden vorgestellt:

Nein, die Leichen sind keine Schauspieler

Die erste russische Version der Ereignisse in Bucha geht auf einen Beitrag auf dem kremlnahen Telegramkanal «Война с фейками» (Deutsch: Krieg gegen Fälschungen) vom 03. April zurück. Die Nachricht wurde später über den offiziellen Telegramkanal des russischen Verteidigungsministeriums geteilt.

Die Behauptung des Kremls: Auf den Bildern und Videos aus Butscha sind keine echten Toten abgebildet, sondern bloss Schauspieler – die ganze Butscha-Geschichte ist eine Inszenierung der Ukraine. Untermauert werden soll die Geschichte mit einem Video in schlechter Qualität, in dem einer der Toten seine Hand hebe, ein anderer stehe sogar auf.

Diese Behauptung ist mit öffentlich zugänglichen Informationen widerlegt:

Mediazona schreibt, dass in der Originalqualität des Videos zum Arm klar zu sehen sei, dass sich die Hand nicht wirklich bewege – sondern dass ein Wassertropfen auf der Windschutzscheibe auf der dunklen Kleidung der Leiche sichtbar werde, während das Auto an dem toten Körper vorbeifahre. Auch auf Twitter findet sich das Video mittlerweile in hoher Auflösung:

Im zweiten Video soll eine angebliche Leiche zu sehen sein, die sich aufsetze. Gefilmt wurde die Szene durch den Rückspiegel eines Autos. Auch hier ist bei hoher Auflösung des Videos zu erkennen, dass es sich um einen Fake-Beweis handelt. Denn die scheinbare Bewegung der Leiche wird durch eine Bildverzerrung hervorgerufen, die darum entsteht, weil der Rückspiegel leicht gewölbt ist. Auch Gegenstände wie ein Zaun werden im Video optisch ähnlich verzogen.

Der Kanal «Война с фейками» hat später zugegeben, dass die erste Leiche tatsächlich nicht «winkt», wie Mediazona berichtet. Der Beitrag ist allerdings immer noch auf dem Kanal des Verteidigungsministeriums zu sehen.

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Nein, die Bilder tauchten nicht erst Tage nach dem russischen Abzug auf

Über die staatliche Nachrichtenagentur RIA Novosti verbreitet das russische Verteidigungsministerium eine weitere Falschaussage.

Die Behauptung des Kremls: Alle Einheiten der russischen Streitkräfte zogen sich bereits am 30. März vollständig aus Butscha zurück, während «Beweise für Verbrechen» in Butscha erst am vierten Tag danach auftauchten – als die Journalisten Fotos machten.

Diese Behauptung ist mit öffentlich zugänglichen Informationen widerlegt:

Mediazona schreibt, dass es nicht ganz einfach sei, diese Ausrede des Kremls zu entkräften, denn man müsse dazu erst belegen können, wann genau die russischen Soldaten die Stadt verlassen hätten – und dies lasse sich mit den vorhandenen Quellen nur schwer eindeutig beantworten:

Am Abend des 31. März meldete die ukrainische Seite, dass sich russische Streitkräfte in der Region um Kiew befänden. Der offizielle Fernsehsender des russischen Verteidigungsministeriums, «Swesda», berichtete am 1. April, dass russische Fallschirmjäger und Infanteristen in der Nähe von Kiew kämpften: «Die russischen Soldaten führen derzeit Such- und Aufklärungsoperationen durch und räumen Siedlungen, um sich dort zu verschanzen», heisst es in dem Bericht. Es gibt jedoch keinen direkten Hinweis darauf, dass sich zu diesem Zeitpunkt russische Truppen noch in Butscha selbst befanden.

Mediazona schliesst daraus, dass ukrainische Truppen zwischen dem 31. März und dem 01. April in Butscha die Kontrolle übernommen hätten. Augenzeugen-Berichte über ukrainische Soldaten in Butscha gebe es erst ab dem 1. April.

Ebenfalls am 01. April veröffentlichte der Bürgermeister von Butscha ein Video, in dem er sagt: «Der 31. März wird in die Geschichte unseres Ortes eingehen (...) als Tag der Befreiung unserer Siedlungen von den russischen Orks. (...) Heute (Сегодня, Anmerkung watson) ist ein freudiger Tag, ein grosser Sieg für unsere Streitkräfte in der Region Kiew.» Mediazona betont, dass die Metadaten des Videos darauf schliessen lassen, dass das Video erst am 01. April aufgenommen wurde – und es darum nicht klar sei, ob sich der Bürgermeister mit «heute» (Сегодня) auf den 31. März oder den 01. April beziehe.

Prorussische Kommentatoren betonten, dass der Bürgermeister in diesem Video die Leichen nicht erwähnt – und dies sei verdächtig. Mediazona schreibt dazu, dass, basierend auf den Metadaten, der Bürgermeister diese Videobotschaft etwa zur gleichen Zeit aufnahm, als die ersten Leichen gefilmt wurden – möglicherweise wusste er zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts von den Leichen in der Yablonewa-Strasse.

Sicher ist: Die ersten Aufnahmen von Privatpersonen, die Leichen mit gefesselten Händen zeigen, wurden am 1. April veröffentlicht – auf Telegram und Twitter. Auch hier hat Mediazona die Metadaten geprüft. Sie zeigen, dass die Bilder am 01. April aufgenommen worden sind.

Zudem hätten am 01. April BBC-Korrespondenten ersten Aufnahmen von Leichen machen können, die in den Strassen lagen. Am selben Tag habe der Reuters-Fotograf Oleksandr Ratushniak Leichen am Stadtrand gefunden.

Somit sei belegt, dass Bilder der Leichen nicht erst vier Tage nach dem Rückzug der russischen Truppen aufgetaucht seien – egal ob dies nun am 31. März oder am 1. April gewesen sein. Zwischen dem Rückzug der russischen Truppen und dem Auftauchen der ersten Bilder von gefesselten Leichen, die die Strassen pflastern, seien höchstens einige Stunden vergangen, schliesst Mediazona.

Nein, die Leichen sind nicht frisch

Die Behauptung des Kremls: «Alle Körper von Menschen, deren Bilder vom Kiewer Regime veröffentlicht wurden, hatten keine charakteristischen Leichenflecken.»

Diese Behauptung ist mit öffentlich zugänglichen Informationen widerlegt:

Mediazona wandte sich an einen unabhängigen Gerichtsmediziner, um sich zu versichern, dass die Leichen nicht erst vor kurzer Zeit gestorben seien. Dieser habe dies anhand einer Bilder-Serie des AP-Fotografen Vadim Ghirda vom 3. April bestätigt. Zu sehen sind dort tote Körper in einem Innenhof von Butscha. Auch watson liegen diese Bilder vor.

The lifeless body of a man lies on a dirt path in Bucha, Ukraine, Monday, April 4, 2022. (AP Photo/Vadim Ghirda)
Eines der Bilder von Vadim Ghirda.Bild: keystone

Die offensichtlichen Falschaussagen von offizieller russischer Seite zu den Geschehnissen in Butscha sind Kalkül. Sie stehen in einer Reihe mit den Ankündigungen vor der Invasion in die Ukraine. Über Wochen beteuerte der Kreml, Russland werde die Ukraine nicht attackieren. Und noch zwei Wochen nach dem Einmarsch erklärte Aussenminister Sergej Lawrow öffentlich, Russland habe die Ukraine nicht angegriffen. Das Vorgehen hat System.

(yam)

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Das schreibt die Presse zu Butscha
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Das schreibt die Presse zu Butscha
«La Repubblica», Italien: «Der Horror von Butscha».
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Journalist platzt nach Zweifel an Butscha-Bildern der Kragen
Video: watson
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48 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Kommissar Rizzo
07.04.2022 14:45registriert Mai 2021
Hier haben sich die Russen eine Schuld aufgeladen, die noch Jahrzehnte auf ihr Gewissen drücken wird. Sofern sie denn eines haben...
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Rivka
07.04.2022 15:46registriert April 2021
Wisst ihr was schlimm ist? Der Grossteil der Russen glaubt die widerlichen Fake-News von Kreml. Und wisst ihr was noch schlimmer ist? Es gibt viele Russen, die im Ausland leben und arbeiten, die sehen was Sache ist. Sie hätten die Möglichkeit ihre Freunde und Verwandte in Russland über den Krieg in der Ukraine zu informieren doch sie tun es nicht. Ansonsten würden noch mehr Leute in Russland auf die Strassen gehen um gegen den Krieg zu protestieren. Ich meine, euch ist sicher auch schon aufgefallen, dass die Auslandrussen relativ ruhig sind oder?
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Liebu
07.04.2022 15:14registriert Oktober 2020
Danke für den Faktencheck. War ja eigentlich klar, aber nicht unabhängig verifiziert.

Jetzt müsst ihr nur noch dafür sorgen, dass dieser Faktencheck auch die richtigen Adressaten erreicht, die nur die Kreml Darstellung sehen und hören und damit diese auch glauben.
Unser Wissen und das der Russen unterscheidet sich durch die Quellen.
Ist auch hier noch nicht so lange her, da glaubten einige es wären GPS Tracker in Impfstoffen usw. Wenn widerlegt, wurde von Verschwörung gesprochen.
Die Russen leben in genau einer solchen Blase und kommen nicht heraus, genau wie es auch hier war.
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