Es müssen schreckliche Szenen gewesen sein, die sich in der Nacht auf den vergangenen Freitag in Oleniwka ereignet haben. Durch ein Feuer oder eine Explosion kamen mindestens 50 ukrainische Soldaten ums Leben, die in der Vorstadt von Donezk von prorussischen Separatisten gefangen gehalten wurden. Videoaufnahmen aus dem betroffenen Raum zeigen verkohlte Leichen, die in einem zerstörten Schlafsaal liegen.
73 weitere Kriegsgefangene sollen gemäss russischen Angaben verwundet worden sein. Verwundete auf russischer Seite soll es hingegen nicht gegeben haben.
Es gibt keine Zweifel: In Oleniwka hat sich ein grausames Kriegsverbrechen ereignet. Die Frage ist nur: Was ist in jener Nacht tatsächlich passiert? Und wer trägt die Schuld am Massaker? Denn da klaffen die Erklärungen Russlands und der Ukraine weit auseinander.
Das russische Verteidigungsministerium behauptet, dass das Gefangenenlager von den ukrainischen Streitkräften angegriffen worden sei. Die Ukrainer hätten das Raketenwerfer-System HIMARS benutzt und die eigenen Männer getötet. Damit hätten die Ukrainer ihre eigenen Soldaten einschüchtern wollen, «damit diese sich nicht ergeben». «Die politische, kriminelle und moralische Verantwortung für das Massaker in Oleniwka und andere Kriegsverbrechen in der Ukraine trägt direkt die Regierung [von US-Präsident Joe] Biden zusammen mit Selenskyj», so die offizielle russische Version.
Ganz anders klingt die Erklärung des ukrainischen Verteidigungsministeriums. Die Kriegsgefangenen seien von der russischen Söldnertruppe Wagner getötet worden. Diese habe damit Folter-Spuren verwischen wollen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem «Terroranschlag, der von russischen unmenschlichen Monstern» verübt worden sei.
Welche Seite hat recht? Unabhängige Untersuchungen vor Ort hat es bisher noch nicht gegeben. Folgende sechs Punkte stellen die russische Version jedoch erheblich infrage.
Viele Gefangene in Oleniwka stammen aus Mariupol, das von Russland im Mai eingenommen wurde. Unter ihnen befinden sich auch Asowstal-Kämpfer, die monatelang erbitterten Widerstand gegen die russischen Besatzer leisteten. Russland beschuldigt die Soldaten des Asow-Regiments, rechtsextreme «Nazis» zu sein.
Die Gefangenen verbrachten den Grossteil ihrer Gefangenschaft nicht in der Baracke, wo die Explosion geschah. Dorthin wurden sie wohl erst kürzlich gebracht, wie eine Satelliten-Bilder-Analyse von Oliver Alexander, einem Daten-Spezialisten, zeigt. Er begutachtete Videoaufnahmen vom Juni, die in einem anderen Teil des Lagers aufgenommen wurden.
I have found videos from June 2th that provide further evidence that the PoWs at Olenivka Prison were housed in a completely separate area of the camp from where the explosion happened. Shown here on the @Maxar images pic.twitter.com/ANL91h6JZ4
— Oliver Alexander (@OAlexanderDK) July 31, 2022
Zum gleichen Schluss kommt die «Washington Post», welche mit drei Personen gesprochen hat, die rund 100 Tage in Oleniwka gefangen waren und kürzlich freikamen. Das Gebäude, in dem die Explosion stattgefunden habe, befinde sich in der sogenannten «Industrie-Zone» des Komplexes. Dort seien nie Gefangene gehalten worden, sagen sie zur Zeitung.
Warum also mussten die Gefangenen kurz vor der Explosion das Gebäude wechseln?
Der ukrainische Geheimdienst veröffentlichte vergangene Woche ein abgefangenes Gespräch zwischen zwei Besatzern. Einer der Männer, der offenbar vor Ort war, äusserte die Vermutung, dass in der Baracke zuvor Sprengstoff angebracht wurde, der dann in der Nacht auf Freitag gezündet wurde. Es habe keine Raketeneinschläge gegeben, erzählt der Mann.
Die Veröffentlichungen des ukrainischen Geheimdienstes müssen natürlich mit Vorsicht betrachtet werden – zumal sie selbst Kriegspartei sind.
Dass das Gebäude jedoch nicht von einer Rakete getroffen wurde, die von HIMARS abgefeuert wurde, legt auch die Analyse des Militärexperten Thomas C. Theiner nahe. Er argumentiert unter anderem mit diesen vier Punkten:
Greifen wir nochmals auf die Analyse der Satelliten-Bilder zurück. Auf diesen sind nämlich mutmassliche Gräber zu sehen, die sich am Rande des Gefangenenlagers befinden.
Wie Datenanalysten herausgefunden haben, wurden die Gräber zwischen dem 18. und 21. Juli ausgehoben. Also bereits vor der Tötung der Kriegsgefangenen. Einen Tag nach der Explosion sei dann ein Teil wieder zugeschüttet gewesen, schreibt Oliver Alexander. Dies deutet auf eine geplante Tötung der Kriegsgefangenen hin.
@Maxar image from the Olenivka Prison where 50 PoWs were killed seems shows possible graves dug near the north wall.
— Oliver Alexander (@OAlexanderDK) July 30, 2022
The possible graves appear to be open and recently dug on the 27th (2 days prior to the explosion) and covered on the 30th (1 day after). https://t.co/XAnG4HnDzh pic.twitter.com/sLvzae0RMQ
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat kurz nach der Explosion Zugang zum Gefängnis gefordert. Doch laut IKRK haben die Russen darauf noch nicht reagiert. Das Komitee schreibt auf seiner Webseite: «Bislang wurde uns weder Zugang zu den von dem Angriff betroffenen Kriegsgefangenen gewährt, noch haben wir Sicherheitsgarantien für die Durchführung dieses Besuchs. Unser Angebot, Hilfsgüter zu spenden, blieb unbeantwortet.»
Das russische Verteidigungsministerium sagt hingegen, es habe das IKRK zu einem Besuch eingeladen.
«Die Dritte Genfer Konvention gibt dem IKRK das Recht, überall dorthin zu gehen, wo sich Kriegsgefangene aufhalten, und sie zu befragen», erklärt das IKRK auf seiner Webseite. Allerdings braucht es dafür formell die Zustimmung der Partei, die die Kriegsgefangenen festhält.
Wenige Stunden nach der Explosion im Gefangenenlager teilte die russische Botschaft in Grossbritannien ein Zitat von angeblich pro-russischen Zivilisten aus Mariupol, die den Asowstal-Kämpfern einen «erniedrigenden Tod» wünschen. Dies widerspricht den Genfer Konventionen, die eine würdevolle Behandlung der Kriegsgefangenen vorsieht.
Der Tweet wurde untersucht, da er gegen die Twitter-Regeln verstösst. Twitter erklärte jedoch, dass er ihn aus öffentlichem Interesse aufgeschaltet lasse.
💬#Azov militants deserve execution, but death not by firing squad but by hanging, because they’re not real soldiers. They deserve a humiliating death.
— Russian Embassy, UK (@RussianEmbassy) July 29, 2022
A married couple from #Mariupol tell how they were shelled by 🇺🇦forces from #Azovstal. #StopNaziUkraine https://t.co/jyQGEOJFYz
Nach der Gefangennahme der Asowstal-Kämpfer verkündete der russische Uno-Botschafter Wasili Nebenzya: «Die humane Behandlung von Kriegsgefangenen ist bei den russischen Streitkräften die Norm.»
Das scheinen in seinen Reihen aber nicht alle gleich zu sehen. Im Moment deutet alles darauf hin, dass durch die russischen Truppen in Oleniwka ein weiteres Massaker stattgefunden hat.
Ist das jetzt einfach Dummheit oder Putinismus?