Bis ein Soldat an der Front kämpfen kann, müssen gewaltige Netzwerke aufgebaut werden. Es braucht Ingenieure und Logistiker, Fabriken und Depots, Strassen und Schienen; Züge und Lastwagen. Schliesslich stehen hinter allen Soldaten ganze Volkswirtschaften.
Dies alles steht auf der verborgenen Seite des Kriegs, im Schatten der grossen Schlachten. Aber es entscheidet deren Ausgang, lange bevor der erste Schuss fällt.
>> Alle aktuellen Entwicklungen im Liveticker
So geht die Theorie von Phillips O'Brien, Militärhistoriker an der schottischen Universität St.Andrews. Vor Kriegsbeginn hat er behauptet, Russland werde überschätzt – als die meisten Experten einen schnellen Sieg erwarteten. Heute sagt er: «Die Ukraine wird gewinnen.»
Latest piece just appeared in @TheAtlantic . Ukraine is going to win this war; the question is how long will it take? That depends on the support given. The better strategic and ethical choice is to give Ukraine what it needs to win the war more quickly. https://t.co/TbwwhtaQ2w
— Phillips P. OBrien (@PhillipsPOBrien) January 14, 2023
Seine Theorie sei «in vielerlei Hinsicht zutiefst langweilig», meint er und nennt sie «Boring Wars». Man könne viel lernen aus der Forschung über Management und Organisationen. Denn es gelte komplexe, logistische Netzwerke aufzubauen, zu pflegen und zu steuern. Wer dies nicht könne, der verliere.
Mut oder Feigheit von Soldaten kümmern ihn wenig, auch nicht der Ausgang einzelner Schlachten. Das tauge vielleicht für fesselnde Dramen. «Doch es sagt nichts Wertvolles darüber aus, warum Kriege gewonnen und verloren werden.»
Russland habe zum Beispiel vor dem Krieg eine enorm hohe Zahl an Soldaten gehabt, an Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und an Flugzeugen. Und obendrein viele «flashy» und glamouröse Waffensysteme.
Doch in der Logistik sei Russland keine Supermacht, urteilte O'Brien vor dem Krieg. Es habe zu wenige Lastwagen, um seine Waffen auch an die Front zu bringen.
Schon bald zeigte sich auch: Russland hatte keine anständigen Pneus – es hatte Billigware, die es nicht richtig in Stand hielt. So verlor es einige seiner teuersten Waffen im ukrainischen Schlamm.
Russland Präsident Wladimir Putin sei der gleichen Versuchung erlegen, wie viele Autokraten: coole Waffen kaufen, mit denen sich an Paraden gut Eindruck schinden lässt. Doch sie vernachlässigen die Logistik – zu wenig grandios.
Es gab ein Paradebeispiel für das russische Scheitern in der Logistik: der berühmte lange Zug von Vehikeln, der damals auf einer einzigen Strasse zur Eroberung von Kiew anrollte.
Die ukrainischen Soldaten mussten nur die vordersten und hintersten Wagen in die Luft jagen – und der lange Zug steckte fest. Solche Schwächen zeigte schon die Sowjetunion, als sie in den 1980er-Jahren in Afghanistan unterlag.
Um Munition und Waffen durch logistische Netzwerke zu kriegen und schliesslich auf Schlachtfelder, muss man sie zuerst einmal herstellen. Darum entscheidet auch wirtschaftliche Macht über Kriege - die sich wiederum messen lässt anhand des Bruttoinlandsprodukts.
Russland hat ungefähr die zehntgrösste Volkswirtschaft der Welt, grösser als Spanien, etwas kleiner als Kanada. Gegenüber den USA und der Europäischen Union ist es damit eher ein Zwerg.
Diese ökonomischen Grössenordnungen machen ersichtlich: Russland wird arg in die Enge getrieben, wenn USA und Europäische Union beide die Ukraine mit Waffen und Munition unterstützen.
Und die volkswirtschaftliche Grösse, die dieser russische Zwerg hat, kommt vor allem durch Rohstoffen zu Stande: Öl, Gas oder Getreide. Jedoch tut man sich schwer mit Hightech, die Abhängigkeit vom Ausland ist gross.
Kampfpanzer stellte man vor dem Krieg jährlich nur 200 Stück her. Nun dürfte eine Steigerung durch westliche Sanktionen verhindert werden. Dabei bräuchte es dringend Nachschub. Im Krieg wurden 1600 bis 3100 zerstört, je nach Schätzung. Russische Soldaten wurden in jahrzehntealten Vehikeln gesichtet, teils noch aus der Sowjet-Ära.
Die Ukraine könne Logistik, so O'Brien. Sie greife russische Positionen an der Front nicht direkt an. Sondern sie bombardiert erst systematisch ihre Verbindungen zum Hinterland: zu Waffen, Munition oder Nahrungsmitteln. Ist der Gegner geschwächt, wird er attackiert.
Möglich wurde diese Kriegsführung vor allem durch Himars: von den USA gelieferte Raketenwerfer, die noch aus 80 Kilometern genau treffen. Damit beschädigte die Ukraine etwa eine Brücke über den Fluss Dnjepr so, dass sie zwar nicht einstürzte, aber keine schweren Fahrzeuge mehr tragen konnte.
Und die Ukraine wählt für ihre Angriffe solche Positionen aus, die von logistischer Bedeutung sind. So versucht sie aktuell, die Region um das Städtchen Kreminna zurückzuerobern, weil sich dort ein wichtiger Knotenpunkt befindet. Kontrolliert sie diesen, kann sie die wichtigste russische Versorgungslinie in den Oblast Luhansk kappen. Die dortige russische Position bräche ein.
Dieses Denken geht hoch bis zum Präsident. In einer Rede sagte Wolodimir Selenski diese Woche: «Wir arbeiten Tag und Nacht daran, das Potenzial des Feindes zu verringern: Wir nehmen ihm seine Lager weg, seine Hauptquartiere und seine Kommunikationsmittel.» O'Brien übersetzt auf Twitter, was Selenski im Grunde sage: «Logistik, Logistik, Logistik.»
In Russland diktiert die politische Agenda das militärische Vorgehen. Putin braucht einen Sieg, irgendeinen. So greifen seine Truppen bei zwei Städtchen an, die kaum strategischen Wert haben. Sind sie erobert, passiert kaum etwas. Keine logistische Verbindung wird gekappt. Es gibt kein weiteres, schnelles Vordringen, da die Soldaten zu Fuss stürmen müssen, irgendwelche Vehikel gab es nicht für sie.
Over the northern hemisphere winter, eastern Ukraine has been the scene of bitter and intense combat. The offensives around #Bakhmut & #Kreminna highlight the different strategic & cultural approaches that Ukraine and Russia have applied in this war. 1/23 🧵🇺🇦 pic.twitter.com/g3tFgRH9au
— Mick Ryan, AM (@WarintheFuture) January 18, 2023
Bei diesen Angriffen zeigt sich die russische Strategie besonders zynisch und menschenverachtend. Die Soldaten, oft aus Gefängnissen rekrutiert, müssen als menschliche Wellen auf die ukrainischen Positionen losstürmen. Dabei werden sie zwar von Artillerie unterstützt, aber das Kalkül ist: Die Ukrainern erhält mehr Ziele angeboten, als sie abschiessen können. Am Ende solcher Attacken ist der Boden bedeckt mit Leichen.
Kritiker wenden ein, die wirtschaftliche Macht der Nato-Länder stelle nur ein Potenzial dar, das der Ukraine wenig helfe, wenn die Waffen nicht tatsächlich geliefert werden. Russland richte seine Wirtschaft zunehmend voll auf den Krieg aus, wovon die Nato-Länder weit entfernt seien.
Und der Militärhistoriker O'Brien wagt sich vielleicht etwas weit aus seinem Kerngebiet heraus, wenn er die politische Frage beantworten will: Wie dauerhaft ist der westliche Rückhalt für die Ukraine? Werden die nötigen Waffen geliefert?
Wohl darum verfolgt O'Brien genau, was der Westen verlautbaren lässt und welche Waffen er liefert. Bisher scheint er sich bestätigt zu fühlen. Der Westen liefert laufend mehr und tendenziell mächtigere Waffen. Panzer sind die letzte Steigerung, die vor kurzem undenkbar schien.
Wobei es seiner Ansicht wichtigeres gibt: Das wäre eine grössere Reichweite von Raketenwerfern. Damit könnte die Ukraine die logistischen Linien und Waffendepots erreichen, die Russland verlegt hat – weiter weg von den Himars, aber in der Ukraine. Weite Teile der russischen Logistik brächen zusammen.
Die US-Regierung von Joe Biden hat dies bisher abgelehnt. Sie befürchte eine weitere Eskalation, falls die Ukraine etwa Schläge gegen die Krim führen würde, die Putin zu «Russlands heiligem Land» erklärt hat. Doch nun bewegt sich Biden, so die «New York Times». O'Brien kommentiert es so: «Wir kommen ans Ziel – schmerzhaft langsam.» (aargauerzeitung.ch)