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Ukraine-Krieg: Wo die Russen jetzt vorrücken

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Ein russischer T72-Panzer feuert auf ukrainische Stellungen.Bild: keystone

Ukrainische Front unter Druck – wo die Russen jetzt vorrücken

03.05.2024, 20:4104.05.2024, 16:03
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Der russische Angriffskrieg in der Ukraine dauert bereits mehr als 26 Monate. Längst hat er sich zu einem mörderischen Abnützungskrieg entwickelt, in dem beide Seiten schwere Verluste an Menschen und Material verzeichnen müssen. Für die ukrainische Armee wird die Lage zusehends kritisch, besonders da Munition und Soldaten knapp werden.

Die russischen Truppen setzen ihr Übergewicht an Mann und Material ein, um vornehmlich im östlichen Frontabschnitt die Ukrainer schrittweise zurückzudrängen. Für die Ukraine geht es nun darum, operativ bedeutende russische Vorstösse zu verhindern, bis die nun wieder anlaufenden amerikanischen Waffen- und Munitionslieferungen ihre materielle Unterlegenheit verringern.

Russische Vorstösse

Seit der Eroberung der strategisch wichtigen Stadt Awdijiwka im Februar ist es den russischen Truppen gelungen, immer wieder kleinere Geländegewinne im Donbass zu erzielen. Dieses langsame Vorrücken hat sich in den vergangenen Tagen, begleitet von massiven Luftangriffen, fortgesetzt.

Otscheretyne

Nördlich der Ortschaft Otscheretyne, die etwa 15 Kilometer nordwestlich von Awdijiwka liegt, konnten die russischen Angreifer vordringen, wie das Institute for the Study of War (ISW) meldet. Am Donnerstag bestätigte der ukrainische Armeesprecher Nasar Woloschyn, dass sich Teile Otscheretynes bereits unter russischer Kontrolle befänden.

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Die 98-jährige Lidia Lomikovska flüchtete letzte Woche zu Fuss aus Otscheretyne und legte dabei zehn Kilometer allein zurück. Bild: keystone

Laut Woloschyn hat die Ukraine ihre Truppen in diesem Abschnitt mit Reserven verstärkt, um die Front zu stabilisieren und Gegenangriffe durchführen zu können. Der russisch besetzte Ortsteil werde mit Artillerie beschossen. Die härtesten Kämpfe seien derzeit in den Frontabschnitten in Richtung Pokrowsk und Kurachowe im Gange. Die russischen Truppen hätten zwar taktische Erfolge erzielt, jedoch bisher keinen operativen Vorteil erlangt.

Perwomajske

Auch weiter südlich gelang es den russischen Streitkräften offenbar, Geländegewinne zu erzielen. Nach Angaben des ISW, das sich auf geolokalisierte Videoaufnahmen stützt, rückten die Invasoren südlich von Perwomajske vor. Diese Ortschaft befindet sich etwa 15 Kilometer südwestlich von Awdijiwka.

Frontverlauf westlich von Awdijiwka. Russische Truppen rückten bei Otscheretyne und Perwomajske vor. 3. Mai 2024.
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Bei Otscheretyne und Perwomajske westlich von Awdijiwka konnten die russischen Truppen vorrücken. Karte: storymaps.arcgis.com/watson

Tschassiw Jar

Hart umkämpft ist die Kleinstadt Tschassiw Jar, ein Nachbarort von Bachmut, der am Siwerskyj-Donez-Donbas-Kanal liegt. Die russische Armeeführung hat in den letzten Wochen bis zu 25'000 Soldaten dorthin verlegt. Den Invasoren soll es laut der ukrainischen Open-Source-Organisation Frontelligence Insight gelungen sein, den Kanal südlich der Stadt zu überqueren. Sie hätten dort indes keinen dauerhaften Brückenkopf errichten können.

Derzeit werde Tschassiw Jar noch vom ukrainischen Militär kontrolliert, erklärte der ukrainische Armeesprecher Woloschyn, der zugleich einräumte: «Es ist schwierig, die Kämpfe gehen weiter, der Feind hört nicht auf zu versuchen, die Stadt einzunehmen.» Der Vize-Chef des ukrainischen Geheimdienstes, Wadjim Sibitskyj, sagte in einem Interview mit dem Economist, die Einnahme von Tschassiw Jar durch russische Truppen sei «lediglich eine Frage der Zeit».

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Tschassiw Jar ist mittlerweile völlig zerstört. Bild: keystone

Hinter Tschassiw Jar, das auf einem Hügel liegt, verlaufen ukrainische Versorgungswege, die wichtig für die Verteidigung der nördlich und südlich davon gelegenen Frontabschnitte in den Oblasten Luhansk und Donezk sind. Sollte es den Russen gelingen, die Stadt einzunehmen, könnten sie die Versorgung der ukrainischen Truppen in diesen Frontabschnitten behindern oder gar abschneiden. Zudem wäre dann der Weg frei für den Vormarsch auf die starken Stellungen von Slowjansk und Kramatorsk.

Frontabschnitt Tschassiw Jar, 3. Mai 2024
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Tschassiw Jar westlich von Bachmut ist hart umkämpft. Westlich der Stadt verlaufen wichtige ukrainische Versorgungslinien. Karte: storymaps.arcgis.com/watson

Sumy-Charkiw

Gemäss dem ukrainischen Armeechef Oleksandr Syrskyj verstärkt die russische Armeeführung die Truppen auch im nördlichen Abschnitt der östlichen Front und intensiviert die Angriffe in der Region Sumy. Entsprechend würden auch ukrainische Einheiten dorthin verlegt, sagte Syrskyj. Der ukrainische Militärgeheimdienstchef Kyrylo Budanow erwartet, dass Russland Ende Mai eine neue Offensive starten wird, die sich gegen die Oblaste Sumy und Charkiw richtet. Nach Angaben der Polizei in Sumy wurden innerhalb der vergangenen 24 Stunden 28 Ortschaften in der Oblast beschossen.

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Die Ukraine errichtet Panzersperren in der Region Charkiw.Bild: keystone

Russische und ukrainische Verluste

Laut Angaben des ukrainischen Generalstabs vom 3. Mai hat die russische Armee innerhalb von 24 Stunden mehr als 1200 Soldaten verloren. Die Zahlen können nicht unabhängig überprüft werden. Zudem hätten die russischen Truppen unter anderem 18 Panzer, 28 gepanzerte Kampffahrzeuge, 36 Artilleriestücke und Mörser verloren.

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Wrack eines Panzers in der Nähe von Donezk. Bild: keystone

Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu wiederum bezifferte die ukrainischen Verluste seit Jahresbeginn auf mehr als 111'000 Mann sowie mehr als 21'000 Einheiten an Fahrzeugen und militärischem Gerät, wie die Nachrichtenagentur SDA berichtete. Besonders im April seien die ukrainischen Verluste hoch gewesen; täglich seien mehr als 1000 Soldaten gefallen oder schwer verwundet worden. Schoigu sagte überdies, es sei gelungen, Gebiete im Umfang von 547 Quadratkilometern zu erobern – das ist etwas mehr als die Fläche des Kantons Basel-Landschaft. Auch diese Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Ukrainische Drohnenangriffe auf Ölraffinerien

Die Ukraine, die derzeit aufgrund mangelnder westlicher Unterstützung mit Munitionsmangel zu kämpfen hat, setzte erneut ihre eigens für Angriffe weit im russischen Hinterland weiterentwickelten Drohnen ein. In der Nacht auf Mittwoch schlugen nach inoffiziellen Angaben des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR Drohnen in einer Ölraffinerie in der russischen Stadt Rjasan ein, 190 Kilometer südöstlich von Moskau. Zugleich wurde eine ölverarbeitende Anlage im russischen Gebiet Woronesch angegriffen.

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Die Serie ukrainischer Drohnenangriffe auf ölverarbeitende Anlagen in Russland dauert schon seit Wochen an. Dieses Öldepot in der Nähe von Brjansk wurde bereits im Januar getroffen. Bild: keystone

Die Serie von Anschlägen auf russische Ölraffinerien, die seit Wochen andauert, dürfte das Ziel verfolgen, die Treibstoffversorgung der russischen Armee zu stören. Laut der Nachrichtenagentur Reuters waren bis Ende März rund 14 Prozent der russischen Ölraffineriekapazitäten durch ukrainische Drohnenangriffe ausgeschaltet. Die ukrainischen Angriffe stiessen auf amerikanische Kritik. Washington befürchtet Auswirkungen auf den Weltölpreis, was wiederum den Wahlkampf in den USA zuungunsten von Amtsinhaber Joe Biden beeinflussen könnte.

Kommt jetzt der grosse russische Durchbruch?

Russland wird wohl in den nächsten Tagen den Druck auf die ukrainischen Verteidigungslinien noch erhöhen: Präsident Wladimir Putin möchte vermutlich am 9. Mai, dem «Tag des Sieges», oder spätestens Mitte Mai, wenn er zu Besuch in Peking weilt, einen militärischen Erfolg vorzuweisen haben. Die Chancen auf weitere russische Geländegewinne sind durchaus vorhanden: Das Institute for the Study of War (ISW) befürchtet, dass Russland in den kommenden Wochen wahrscheinlich erhebliche taktische Gewinne erzielen kann.

Bevor sich die ukrainischen Bestände an Waffen und Munition durch die angekündigte amerikanische Unterstützung wieder erholen, werde es noch sechs bis acht Wochen dauern, sagte Andras Racz, Sicherheits- und Russlandexperte der Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin, dem «Hamburger Abendblatt». Die Lage sei besonders westlich von Bachmut heikel. «Wenn es dort zu einem Durchbruch kommt, könnte die russische Armee in offenem Gelände weiter vorstossen, dort wird die Verteidigung extrem schwer», erklärte Racz.

Gleichwohl dürfte es der russischen Armee nicht leichtfallen, in der nächsten Zeit einen operativen Durchbruch zu erzielen. Die Ukraine hat ihre Verteidigungslinien stark ausgebaut. Zudem fehlen auch den russischen Truppen nach Einschätzung westlicher Militärexperten die Ressourcen für eine grosse Offensive – aktuell seien die Bestände an Munition und Panzern zu gering dafür. Und da der Angreifer gemäss einer militärischen Faustregel dem Verteidiger im Verhältnis 3:1 überlegen sein sollte, verfügt die russische Armee auch über zu wenig Soldaten.

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46 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Touché
03.05.2024 21:31registriert Februar 2019
Aha! Russlands Brudervolk?
Ist in der Geschichte wohl eher umkehrt!

Ukrainer waren vor den RUS in dieser Region. Litauen/Polen waren vorher die Herrscher. Russen waren da wohl eher eine Randerscheinung.

Das sich jetzt Russland, als der legitimer und unangefochtener Besitzer dieses Staates gibt ... macht einem nur wütend und bestärkt einem nur, dass RUS ein ein Unrecht-Staat ist ... wo ich NIE leben möchte!

Es gibt aber auch unter den Kommentaren , diese Vorliebe für dieses perverse System.

Ich werde es wohl nicht verstehen, warum man dazu geneigt ist?

Wollt ihr wirklich gefangen sein?
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Cpt. Jeppesen
03.05.2024 22:50registriert Juni 2018
Die Mär, dass der Ukraine die Soldaten ausgehen, möchte ich nicht unkommentiert stehen lassen. Aktuell verfügt die Ukraine noch über eine Millionen Reservisten, welche bisher noch nicht eingezogen wurden.
Nicht zu vergessen, Russland versucht aktuell massiven Druck zu machen, bevor alle Waffen aus dem Hilfsprogramm der USA die Front erreichen. Aktuell gelingt es der Ukraine sehr gut, viele Luftabwehrsysteme der Russen auszuschalten, mittels ATACMS. Dies ist interessant im Hinblick auf die in spätestens 4 Wochen zu erwartende Lieferung der ersten F16.
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AlfredoGermont
04.05.2024 06:59registriert März 2022
Wenn die Ukraine 2022 de Waffen erhalten h’tte, die sie heute hat, hätte sie die desorganisierten Russen aufreiben können. Jetzt macht man wieder den Fehler, ihnen material vorzuenthalten welches entscheidend sein könnte, stattdessen sterben unnötig viele Ukrainer
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