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Ukraine

Warum die Ukraine noch nicht verloren ist – Reportage aus Tschassiw Jar

Bereitmachen für den russischen Angriff: Ukrainische Soldaten in der Region Donezk.
Bild: Getty

Von Panik nichts zu merken – die Reportage aus dem ukrainischen Kriegsgebiet

Der ukrainische Mangel an Artilleriemunition und Flugabwehrwaffen ermöglicht es den Russen, weiter langsam Gebiete zu erobern. Nordöstlich der Grossstadt Charkiw hat Moskau sogar eine neue Front eröffnet.
12.05.2024, 15:4112.05.2024, 16:49
Kurt Pelda, Tschassiw Jar / ch media
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Es ist ein Bauprojekt der besonderen Art. Kurz nacheinander fahren drei Sattelschlepper an uns vorbei. Sie transportieren dicke Betonplatten, die als Schutzdach von Bunkern dienen. Auf einer Anhöhe, etwa 13 Kilometer von der nächsten russischen Stellung entfernt, hebt ein mobiler Kran eines der vorfabrizierten Betonbauteile in die Luft und legt es sorgfältig auf die massiven Aussenwände eines Bunkers.

Solche Feldbefestigungen schiessen nun überall wie Pilze aus dem Boden. Der Bunker mit der Schiessscharte ist Teil eines Verteidigungssystems, das aus drei hintereinander liegenden, verstärkten Schützengräben besteht. Sie ziehen sich im Zickzack durch den Acker.

Bedrohte Nachschubroute

Die Befestigungen sollen eine wichtige Nachschubroute sichern, die vom Westen der Ukraine bis in den Osten bei der umkämpften Ortschaft Tschassiw Jar führt. Die Strasse wird nun von den aus dem Süden vorrückenden Russen bedroht. Bei Otscheretine konnten Putins Truppen die Verteidiger in rund zwei Wochen um etwa acht Kilometer zurückdrängen – der schnellste russische Vorstoss seit vielen Monaten. Von dort bis zur Nachschubroute sind es nur noch knapp zehn Kilometer.

Dennoch ist von Panik nichts zu merken. In der Nähe der neuen Befestigungsanlagen befindet sich ein noch intakter Weiler. Eine Pöstlerin ist gerade damit beschäftigt, den Bäuerinnen Briefe und Pakete auszuhändigen. In der Ferne bringt ein Traktor Saatgut auf den Feldern aus.

Strassenszene im zerstörten Tschassiw Jar.
Zerstörte Häuser in Tschassiw Jar.Bild: Kurt Pelda

Tatsächlich ist es den Ukrainern in den letzten Tagen gelungen, den russischen Vormarsch zumindest vorläufig zu stoppen. Doch die meisten Beobachter vermuten, dass Moskau eine weitere Grossoffensive vorbereitet, um noch möglichst viele Geländegewinne zu erzielen, bevor die vom US-Kongress genehmigte Waffenhilfe den Kriegsverlauf zu beeinflussen beginnt. So meldeten die Ukrainer am Freitag den Beginn einer neuen russischen Offensive in der Gegend von Charkiw, der zweitgrössten Stadt des Landes. Nordöstlich davon hat Moskau nun eine neue Front eröffnet.

Fünf Quadratkilometer pro Tag

Für Präsident Putin ist nicht nur Charkiw eine «russische Stadt», sondern er will auch den ganzen Oblast Donezk im Osten erobern. Im Moment kontrollieren die Ukrainer davon aber noch schätzungsweise 10'000 Quadratkilometer. Rechnet man die Geländegewinne bei Otscheretine ein, so haben die Russen seit Mitte April in der Region Donezk schätzungsweise 130 Quadratkilometer erobert, was einen vergleichsweise schnellen Fortschritt von 5 Quadratkilometern pro Tag ergibt.

Sofern die ukrainische Armee nicht zusammenbricht, würde es im selben Tempo aber noch 2000 Tage beziehungsweise etwa fünfeinhalb Jahre dauern, bis der ganze Oblast unter russischer Kontrolle stünde. Die Region Donezk macht allerdings nur gerade 4,4 Prozent des gesamten ukrainischen Staatsgebiets aus. So gesehen kann der Krieg noch sehr lange dauern.

Ich fahre weiter auf der Nachschubroute und treffe am Abend bei einem Plattenbau aus der Sowjetzeit ein. In dem Haus wohnen fast ausschliesslich alte Leute, die allesamt Russisch sprechen. In einer Wohnung hat es auch Platz für mich. Wir befinden uns nur noch rund 15 Kilometer von den nächsten russischen Positionen entfernt.

Gleitbombe auf einen ehemaligen Kindergarten

Kurz nach dem Abendessen rumst es gewaltig. Das Fensterglas der Mietwohnung scheppert. Zum Glück ist es gegen Druckwellen mit Klebeband verstärkt. Die Ausgangssperre hat schon begonnen, es wäre unklug, nach draussen zu gehen. Am folgenden Tag mache ich mich mit einem Übersetzer auf den Weg zur Einschlagstelle. Hinter einer Baumreihe liegt ein lang gezogenes Gebäude, dessen rechte Hälfte wie weggeblasen ist. Es war eine russische Gleitbombe, Gewicht 500 Kilogramm, die hier einen tiefen Krater hinterlassen hat.

Der zerstörte Kindergarten, der als Militärlager diente.
Ein zerstörter Kindergarten.Bild: Kurt Pelda

Im Innern der noch halbwegs intakten Hälfte liegt Spielzeug herum. Spinde sind mit Namen angeschrieben, und unter jedem Namen befindet sich ein Kleber mit dem Bild eines Tiers. In dem Kindergarten findet aber schon lange kein Unterricht mehr statt. Nachbarn, die beim Einschlag der Bombe zum Glück bei Freunden zum Grillen verabredet waren, erzählen, dass in dem nun zerstörten Gebäude Soldaten gehaust hätten. Es handelte sich also um ein militärisches Ziel.

Die Gemeindeverwaltung tut so, als ob der Krieg in weiter Ferne wäre. Sie lässt die Blumenbeete auf den Mittelstreifen der Alleen pflegen, und vor meinem Lieblingscafé wurden die Bäume radikal zurückgestutzt. Damit bietet das früher ausladende Blätterdach, unter dem man sich vor Luftaufnahmen durch Drohnen verstecken konnte, keinen Schutz mehr. Die Russen können nun die Autos und Menschen vor dem Café zählen und in aller Ruhe entscheiden, wann der ideale Zeitpunkt für einen Luftschlag kommt.

Chemiewaffen auf beiden Seiten

Bogdan (Name geändert) ist ein junger Offizier aus dem russischsprachigen Osten. Mit seiner Einheit kämpft er schon seit Monaten im Oblast Donezk, momentan gerade in der Ortschaft Tschassiw Jar, einem der heissesten Frontabschnitte. «In Tschassiw Jar gibt es viele Neulinge unter den Soldaten, die wenig Kampfkraft aufweisen», erzählt Bogdan. «Die einzige erfahrene Brigade, die wir da haben, hat schon die im Februar gefallene Stadt Awdijiwka verteidigt. Danach erhielt sie zwei Monate Pause und wurde mit frischen Soldaten aufgestockt.»

Auf der anderen Seite stünden russische Fallschirmjäger im Einsatz, kampferprobt und hoch motiviert, sagt Bogdan weiter. «Manchmal schleichen sie sich in der Nacht an unsere Stellungen heran, dringen in die Gräben ein und schneiden überraschten Soldaten die Kehle durch.»

A Ukrainian serviceman who recently returned from the trenches of Bakhmut smokes a cigarette in Chasiv Yar, Ukraine, Wednesday, March 8, 2023. (AP Photo/Evgeniy Maloletka)
Ein ukrainischer Soldat in Tschassiw Jar.Bild: keystone

Die Russen setzten auch Reizgase und Chlorpikrin, eine Chemiewaffe aus dem Ersten Weltkrieg, ein, damit die Ukrainer aus ihren Bunkern herauskommen. «Einmal im Freien, sind unsere Kämpfer dann leichte Ziele für Artillerie oder Drohnen. Wir machen das nun aber auch. Wir werfen improvisierte Bomben, die mit Chlorpikrin gefüllt sind, von Drohnen auf die russischen Stellungen ab.» Sowohl der Einsatz von Reizgasen als Kriegswaffe als auch von Chlorpikrin ist gemäss Chemiewaffenkonvention verboten.

Wie ernst die Lage an der Front ist, zeigen auch Bogdans folgende Worte: «Im letzten Monat hatte unser Bataillon rund 30 Tote und 120 Verwundete zu beklagen. Ersetzt wurden diese Verluste durch gerade mal 40 Soldaten.» Und nun zeigt der Offizier Fotos dieser Kämpfer, alles Männer im Alter von 40 und mehr Jahren.

Es ist eben nicht nur der Mangel an Artilleriemunition und Flugabwehrwaffen, der den Ukrainern zu schaffen macht. Es ist auch das Versagen der eigenen Regierung, rechtzeitig genügend junge Soldaten zu rekrutieren. Erst kürzlich hat das Parlament entschieden, dass Männer schon im Alter von 25 statt wie vorher 27 Jahren wehrpflichtig werden.

Kampfdrohnen als grösste Gefahr

Wegen der vielen russischen Drohnen entscheiden wir uns, die letzten zwei Kilometer bis nach Tschassiw Jar nicht mit dem Auto zu fahren, sondern zu Fuss durch einen Wald zu gehen. Das russische Artilleriefeuer ist nun ganz nah. Nur selten schiessen die Ukrainer zurück. Manchmal feuern sie aber aus allen Rohren von Kleinwaffen auf russische Drohnen. Weil wir uns durch Dickicht durchschlagen müssen, dauert es eine knappe Stunde, bis wir am westlichen Rand der umkämpften Stadt ankommen. Im Vergleich zu früheren Besuchen ist das Ausmass der Zerstörung überwältigend. Praktisch alle Gebäude sind beschädigt, manche ausgebrannt.

Viele ukrainische Fahrzeuge sind nun mit Störsendern ausgerüstet, die russische Kampfdrohnen zum Absturz bringen sollen. Drohnen sind neben Artillerie und Gleitbomben zur grössten Gefahr geworden. Zivilisten sehen wir nur zwei: einen Ladenbesitzer, den wir schon mehrfach getroffen haben, und einen alten Alkoholiker, der mit einer leeren Plastikflasche um Schnaps bettelt. Beide wollen Tschassiw Jar nicht verlassen.

«Der Bauer, der mir gewöhnlich Milch bringt, wurde vor wenigen Tagen von einer russischen Granate getötet», erzählt der Besitzer des kleinen Lebensmittelgeschäfts. «Nun verkaufe ich keine Milch mehr.» Strom und fliessendes Wasser gibt es schon lange nicht mehr. Als wir die Stadt wieder zu Fuss verlassen, hagelt es – wie zum Abschied – Raketen auf Tschassiw Jar. (aargauerzeitung.ch)

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39 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Chilli-Willi
12.05.2024 15:56registriert Dezember 2022
Schande über Russland!
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Tante Karla
12.05.2024 17:36registriert März 2024
Eindrucksvolle Reportage, danke! Putinisten sind von der Aussicht auf frische Beute sicher getriggert.
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