Der 24. Juli 2022 - ein Datum, das für viele Amerikanerinnen und Amerikaner als Tag der Schande in die Geschichtsbücher eingehen wird. An diesem Tag entschied das oberste Gericht des Landes, der US Supreme Court, den Grundsatzentscheid zum Abtreibungsrecht aufzuheben, bekannt als «Roe v. Wade». Das Urteil erlaubt es neu allen US-Staaten eine Abtreibung künftig zu verbieten - selbst im Falle von Inzucht und Vergewaltigung.
Das Urteil führte in den USA zu zahlreichen Protesten - und Solidaritätskundgebungen weltweit. Auch viele amerikanische Grosskonzerne äusserten schnell ihre Unterstützung für alle Betroffenen, die im Falle einer Abtreibung in einen anderen Bundesstaat reisen müssten. Denn in den USA sind die Krankenkassen-Pläne in der Regel an den Arbeitgeber geknüpft.
Firmen wie die Silicon-Valley-Riesen Meta und Amazon, die Grossbank JP Morgan Chase oder der Kaffee-Riese Starbucks garantierten, dass sie Angestellten die Reise und Medizinalkosten bezahlen würden, sollten sie für eine Abreibung auf einen anderen Staat ausweichen müssen. Zum Teil äusserten sie auch explizite Kritik am Urteil.
Auch viele Schweizer Grosskonzerne haben eine Präsenz und Personal in den USA. Wie haben sie reagiert? CH Media hat bei den im Swiss Market Index (SMI) zusammengefassten 20 grössten, börsenkotierten Firmen nachgefragt. Zehn reagierten gar nicht auf die Anfrage, wohl auch, weil sie teils keine Präsenz in den USA haben, so wie Swiss Life. Aber auch Nestlé, dessen mit Abstand wichtigster Markt die USA sind, und die beiden Grossbanken UBS und Credit Suisse blieben stumm.
Anders der Industriekonzern ABB, die Pharmariesen Novartis und Roche, die Versicherer Swiss Re und Zurich und der Computerzubehör-Hersteller Logitech. Diese sechs Firmen bestätigen, dass sie ihre Angestellten in den USA im Falle einer Abtreibung finanziell unterstützen. «Der Gesundheitsplan für unsere Angestellten in den USA bietet Leistungen über das ganze Land hinweg, unabhängig vom Wohnort», hält Swiss-Re-Sprecherin Laura Urech fest. «Dies beinhaltet umfassende Familienplanungsdienste für die reproduktive Gesundheit, einschliesslich der Beendigung einer Schwangerschaft.»
Zuweilen ist dafür eine Änderung der aktuellen Regelung nötig. Teils passen die Schweizer Firmen im Nachgang zum US-Gerichtsentscheid zugunsten ihrer Mitarbeitenden ihre Reglemente an. So etwa auch der Industriekonzern ABB, der in den USA rund 20'000 Angestellte in 25 Bundesstaaten, Washington D.C. und Puerto Rico zählt.
ABB-Sprecher Eike Christian Meuter kündigt an, dass man die über die Kollektiv-Krankenversicherungen in den USA abgedeckte medizinische Versorgung so aktualisieren werde, dass alle Mitarbeitenden und deren Angehörige weiterhin Zugang zu einer sicheren und einheitlichen Gesundheitsversorgung haben - unabhängig davon, in welchem Staat sie leben.
Zudem hat sich ABB gemäss Meuter entschlossen, die Übernahme von Reise- und Übernachtungskosten auf die Leistungen der reproduktiven Gesundheitsfürsorge auszudehnen, die in vielen Staaten als Folge der Gerichtsentscheidung wegfallen könnten. Auch die Zurich-Gruppe mit ihren 8400 Angestellten in den USA will die nötigen finanziellen Mittel ausweiten.
Am öffentlichen Diskurs haben aber weder ABB, Novartis, Roche, Zurich oder Swiss Re teilgenommen. Sie alle verzichteten auf ein externes Statement. Die Ausnahme: Logitech. Dessen oberste Juristin, Samantha Harnett, veröffentlichte noch am selben Tag eine Stellungnahme und kritisierte die Rückgängigmachung von «Roe v. Wade». Dieses Urteil werde dazu führen, dass es Millionen von Frauen künftig verunmöglicht werde, private Entscheide über ihre Gesundheit zu fällen. Mit der Gefahr, dass sie keine Arbeit ausführen und somit auch nicht ihre Familie unterstützen können. Zudem würden insbesondere Frauen leiden, die nicht weiss und arm seien.
Logitech-Chef Bracken Darrell gab ihr darauf Rückendeckung auf dem Businessportal Linkedin: «Ich applaudiere diesem Kommentar im Namen von Logitech. Wir werden den Zugang all unserer Angestellten zu Gesundheitsdiensten beschützen.» Der Computerzubehör-Hersteller unterstützt Betroffene mit bis zu 10'000 Dollar für Reise- und Unterkunftskosten.
Das Schweigen des Gros der SMI-Konzerne überraschen nicht. Auch schon bei früheren gesellschaftspolitischen Debatten wie Black Lives Matter über strukturellen Rassismus oder zuletzt bei der hiesigen Abstimmung über die «Ehe für alle» taten sich die Schweizer Unternehmen mehrheitlich schwer, Farbe zu bekennen. So schmückte sich etwa die Airline Swiss während des Pride-Monats zwar mit Regenbogen-Farben. Ein klares Votum zur «Ehe für alle»-Vorlage wollte sie jedoch nicht äussern, im Gegensatz zu Firmen wie Zurich und Novartis.
«Die gesellschaftliche Erwartungshaltung gegenüber Unternehmen ist in den vergangenen Jahren gestiegen», sagt Marco Casanova, Professor für Reputationsmanagement. Er unterrichtet an der Fachhochschule Nordwestschweiz, führt das Netzwerk «International Brand & Reputation Community» und berät auch Grosskonzerne und deren Chefs. Dass die Firmen sich in gesellschaftspolitischen Fragen äussern müssen, habe in den USA eine längere Tradition, aber auch in Europa sei diese Entwicklung zu sehen. «Es reicht je länger je weniger, bloss Regenbogenfarben zu zeigen, erwartet werden konkrete Taten.»
Firmen benötigten von der Gesellschaft vermehrt die Lizenz zum Geschäften, sonst drohe ihnen das Abseits, sagt Casanova. Manager hätten früher ein einfaches Leben gehabt, solange Aktienkurs und Dividendenauszahlungen stimmten. Dieser rein utilitaristische Ansatz funktioniert heute nicht mehr, sagt Casanova. «Viele CEOs sagen mir, dass sie heute vor Analysten und Aktionären mindestens gleich viel Zeit für Themen wie Nachhaltigkeit, Diversität und Ethik verwenden müssen wie für finanzielle.»
Doch können Unternehmen mit einem politischen Bekenntnis nicht auch einen Teil der Kundschaft vergraulen und somit Umsatz verlieren? 2016 etwa als der US-Football-Profi Colin Kaepernick während der Nationalhymne niederkniete und damit gegen den Rassismus im Land und die Polizeigewalt gegenüber Schwarzen protestierte, solidarisierte sich der Schuhhersteller Nike sich mit Kaepernick und machte ihn zum Gesicht einer Werbekampagne. Dies führte zwar dazu, dass erboste Konsumentinnen und Konsumenten auf den sozialen Medien ihre Nike-Schuhe und Socken zerschnitten und verbrannten. Doch es gab auch viel Lob - und kommerziell ging die Rechnung für Nike auf. Die Umsätze gingen nach oben.
«Mit solchen Reaktionen und einer emotionalen Entfremdung der Marke muss eine Firma durchaus rechnen, denn eine Gruppe stösst man immer vor den Kopf, wenn man sich am gesellschaftspolitischen Diskurs beteiligt und Farbe bekennt», sagt Casanova. Die Frage sei aber, ob Schweigen und Nichtstun langfristig moralisch und auch unternehmerisch nicht gefährlicher sei. «Das ist immer eine Güterabwägung.»
Fakt sei nun mal, dass vor allem die jüngere Generation vom Arbeitgeber eine klare Haltung erwartet. «Viele zeigen sich auf sozialen Medien stolz, wenn ihr CEO Stellung bezieht zu ökologischen und sozialen Fragen oder zum Thema der guten Unternehmensführung», sagt Casanova. «Man erwartet, dass der eigene Arbeitgeber eine zusätzliche Daseinsberechtigung hat, als ausschliesslich den monetären Profit anzustreben.»
Der Reputationsexperte verweist auf den so genannten Gemeinwohlatlas der Universität St. Gallen. Dieser untersucht den gesellschaftlichen Nutzen von Unternehmen und Organisationen aufgrund einer repräsentativen Befragung von Konsumentinnen und Konsumenten.
Das Resultat: An vorderster Stelle rangieren die Rega, Spitex und Pro Senectute. Der erste Konzern des Schweizer Börsenindexes SMI folgt lediglich auf Platz 28 mit der Firma Geberit. «Respektiert zu werden reicht künftig nicht mehr, man muss auch geliebt werden.»
Gerade in Zeiten des Personalmangels dürfe dieser Aspekt für die Rekrutierung nicht unterschätzt werden. Das sei für die Chefinnen und Chefs nicht immer einfach: «Die Jungen erwarten nicht nur eine klare Haltung, sondern beinahe schon Perfektion.» Wenn eine Firma sich einen Faux-Pas leiste, sei dies vielfach ein Killerkriterium, das dazu führt, mit diesem Unternehmen zu brechen. Dass die Firmen Geld verdienen möchten, werde noch immer akzeptiert. «Aber es darf nicht zu Lasten der Angestellten, von Minderheiten oder der Umwelt geschehen.» (aargauerzeitung.ch)