Staatsbesuche sind protokollarisch bis ins Kleinste durchgeplant. Auf jedes Detail wird geachtet. Vor allem, wenn es sich um diplomatisch so heikle Reisen handelt, wie der gestrige Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel beim türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Es gibt den Streit um die Flüchtlinge und das angespannte Verhältnis zu Griechenland. Dazu sorgte Erdogan kürzlich für einen Eklat, als er sein Land aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt zurückzog.
Dass Erdogan ein Macho sei, behaupten seine Kritiker schon seit langem. Jetzt sehen sie sich wieder einmal bestätigt: Beim Treffen mit den EU-Spitzen gab es nämlich nur einen Stuhl für Ratspräsident Charles Michel. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wurde dagegen in einiger Entfernung auf das Sofa verbannt. Ein Video hat die Szene festgehalten: Von der Leyen, offensichtlich verwundert, kann nur mit einem hilflosen «Äääähm?» reagieren.
"Ehm" is the new term for "that’s not how EU-Turkey relationship should be". #GiveHerASeat #EU #Turkey #womensrights pic.twitter.com/vGVFutDu0S
— Sergey Lagodinsky (@SLagodinsky) April 6, 2021
In den sozialen Medien bricht daraufhin ein Sturm der Empörung los. Für viele ist die Bildsprache klar: Von der Leyen wird abgeschoben, während die Männer sich unterhalten. «Beschämend» kommentierte Iratxe Garcia Perez, die Fraktions-Chefin der Sozialdemokraten im EU-Parlament. Zuerst hätten sich die Türkei von der Istanbul-Konvention verabschiedet und jetzt würden sie der Kommissionspräsidentin nicht einmal einen Stuhl anbieten.
First they withdraw from the Istambul Convention and now they leave the President of European Commission without a seat in an official visit. Shameful. #WomensRights pic.twitter.com/p5Z4AHuHjK
— Iratxe Garcia Perez/♥️ (@IratxeGarper) April 6, 2021
Viel Prügel einstecken muss aber auch EU-Ratspräsident Charles Michel. Es sei unverständlich, dass dieser nicht reagiert habe und seiner Kollegin beigestanden sei, heisst es. Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Christian Kern schrieb auf Twitter, Michel habe sich zur «Witzfigur» degradieren lassen.
Von Erdogan darf man nichts anderes erwarten, aber das sich der EU-Ratspräsident zu einer Witzfigur degradiert ist bitter. https://t.co/UyhSzUhWh9
— Christian Kern (@KernChri) April 6, 2021
Der Grüne Bundestagsabgeordnete und Erdogan-Kritiker Cem Özdemir fragte, weshalb man sich eine solche Behandlung gefallen lasse. Respekt würde man so jedenfalls sicher nicht erhalten, so Özdemir.
Solche Zeichen setzen autoritäre Unterdrücker & Machos wie #Putin, #Erdogan & Co bewusst. Die Präsidentin der Europäischen Kommission @vonderleyen wird auf die Coach gesetzt. Kann man sich gefallen lassen, muss man nicht. Respekt bekommt man so jedenfalls nicht bei den Herren!
— Cem Özdemir (@cem_oezdemir) April 6, 2021
Wie ein Treffen zwischen der EU und der Türkei protokollarisch ablaufen sollte, zeigen Fotos der Zusammenkunft zwischen Erdogan und den damaligen EU-Spitzen Jean-Claude Juncker und Donald Tusk: Jeder erhält seinen Stuhl, niemand wird abgeschoben.
3/ “Protokollarisch muss das so.”
— Stefan Leifert (@StefanLeifert) April 6, 2021
Achja? pic.twitter.com/iO8A9DWtqE
In der ganzen Aufregung ging derweil unter, um was es beim Besuch wirklich ging. Ziel der Reise von der Leyens und Michels war es, die in den letzten Jahren stark strapazierte Beziehung zur Türkei wieder auf eine tragfähige Basis zu stellen und eine.
Von einer «ehrlichen Partnerschaft» sprach von der Leyen und wies auf daraufhin, dass für die EU die Achtung der Menschenrechte «höchste Priorität» hätten. Im Zentrum des Gesprächs stand aber vor allem auch die Versorgung der fast vier Millionen syrischer Flüchtlinge in der Türkei, zu der die EU auch künftig beitragen will.
Beschämend, auch dass Michel dagegen nicht protestiert.