Eine langgezogene Bucht mit hellem, fast weissem Sand, das kristallklare Tyrrhenische Meer, die Inseln Ponza, Palmarola und Ventotene am Horizont: Hier, unweit des Badeortes Sperlonga südlich von Rom, betreibt Sergio Palazzo mit seiner französischen Frau Marie-Jeanne und einigen Freunden seinen «Lido Selvaggio».
Es ist ein kleines, familiäres «stabilimento balneare», wie die Bezahlstrände in Italien genannt werden: Fünfzig «ombrelloni» (Sonnenschirme) in zwei Reihen, Strandbar, eine Terrasse mit zwei Dutzend Tischen. Seine Gäste, die er alle mit Vornamen kennt, begrüsst Sergio jeweils mit den Worten «ciao amico mio!».
Die kostenpflichtigen Badeanstalten sind der Inbegriff der italienischen Strandkultur: Im «stabilimento» verbringen die meisten Italiener schon als Kinder die Sommer; als Erwachsener treffen sie dort ihre alten Freunde vom letzten Urlaub wieder. Der Strand ist Treffpunkt, Laufsteg, Markt und Liebesnest in einem. Mit anderen Worten: Das «stabilimento» ist Heimat, Identität, «Italianità».
Und so sind die «stabilimenti» ein hochemotionales Thema in Italien – eines der emotionalsten überhaupt. Deshalb hat es bisher auch kein Regierungschef gewagt, den heiligen Strandfrieden zu stören. Ob Romano Prodi, Silvio Berlusconi oder Giuseppe Conte: Alle kannten die Bolkestein-Direktive, die die EU 2006 erlassen hatte und mit der die öffentlichen Dienstleistungen liberalisiert und für private Anbieter geöffnet wurden.
Für die italienischen Lidos bedeutete die Direktive: Die staatlichen Konzessionen für die von ihnen belegten Strandabschnitte müssten in regelmässigen Abständen neu ausgeschrieben werden, weil es sich bei den Stränden um öffentlichen Grund handelt. Eine Zeitbombe für die Lido-Betreiber. Aber alle, die Politik eingeschlossen, taten so, als hörten sie das Ticken nicht.
Betroffen von der Bolkestein-Direktive sind 30'000 Lidos, die während der Badesaison 300'000 Familienmitglieder und Mitarbeiter beschäftigen und pro Jahr rund 15 Milliarden Euro Umsatz verbuchen. Bisher tat Rom das genaue Gegenteil dessen, was Brüssel vorschreibt: In den 16 Jahren seit dem Inkrafttreten der Direktive haben sämtliche Regierungen die Konzessionen stillschweigend und ohne Ausschreibung verlängert.
Unter Draghi ist nun Schluss mit lustig. Die Regierung hat in dieser Woche ein neues Gesetz beschlossen, das die Dauer der aktuellen Konzessionen auf Ende 2023 beschränkt. Wer sein Strandbad über diese Deadline hinaus weiter betreiben will, muss sich um eine neue Bewilligung bewerben und sich dabei gegen andere Interessenten durchsetzen.
Der Regierungsentscheid hat unter den Betreibern der Bezahlstrände grosse Verunsicherung ausgelöst – denn die öffentliche Ausschreibung der Strandkonzessionen könnte leicht zur Folge haben, dass ein Lido-Betreiber seinen Platz räumen muss – möglicherweise für einen ausländischen Tour-Operator oder einen Finanzinvestor.
Für Roberto Santini, Betreiber eines beliebten Lidos im toskanischen Badeort Forte dei Marmi, käme das schlicht einer «Enteignung» gleich. «Fast alle von uns sind kleine Unternehmer, die ihr stabilimento mit viel Leidenschaft und grossem finanziellen Einsatz aufgebaut haben und in Schuss halten. Wir sollten von der Regierung dafür belohnt und nicht bestraft werden», betont Santini. Genauso denkt auch Sergio Palazzo in Sperlonga – und mit ihm alle anderen Lido-Betreiber des Landes.
Das Unbehagen gegenüber Draghis Revolution ist auch unter den Gästen weit verbreitet. Ob das Parlament im laufenden Wahljahr die Courage hat, das vorgelegte Gesetz abzusegnen, bleibt abzuwarten. Lega-Chef Matteo Salvini hat bereits angekündigt, dass man die Vorlage noch werde «verbessern» müssen. Und «verbessern» kann im Zusammenhang mit den «stabilimenti» nur eines bedeuten: verwässern. International · Seite 9, Artikel 2/2