Die Hiobsbotschaft erreichte Greg Harvey in den frühen Morgenstunden. Um 7.15 Uhr am 30. April teilten ihm Vertreter der Firma Verso mit, dass die lokale Papierfabrik nach 130 Jahren die Produktion einstellen werde. Der Betrieb sei nicht mehr rentabel.
«Von einem Schock zu sprechen, wäre eine Untertreibung», sagt Harvey, der im Auftrag der Gewerkschaft USW (United Steel Workers) die Interessen von 520 der 700 Verso-Angestellten vertritt. Verso ist nicht nur der grösste private Arbeitgeber in diesem ländlichen Zipfel des Bundesstaates Marylands, an den Ausläufern der lieblichen Appalachen.
Von Verso abhängig sind auch zahlreiche Zulieferfirmen in der Forstwirtschaft und Dienstleistungsbetriebe. Zudem ist das Dorf Luke, der eigentliche Standort der Papierfabrik am Potomac, buchstäblich untrennbar mit Verso verknüpft – die rund 60 Bewohner von Luke beziehen ihr Frischwasser von der Industrieanlage und schicken ihr Abwasser auf das Gelände der Firma, das grösser ist als 100 Fussballfelder.
Der Schock ist auch Wochen später noch nicht verflogen. In der unmittelbaren Umgebung der mittlerweile stillgelegten Papierfabrik – die vier Dörfer und drei Verwaltungsbezirke in den beiden Staaten Maryland und West Virginia umfasst – versucht man, sich den misslichen Umständen anzupassen. Harvey, dessen Gewerkschaft im Dorf Westernport ein kleines Büro betreibt, sagt: Einige der betroffenen Verso-Angestellten hätten in den wenigen lokalen Produktionsbetrieben, die in der Umgebung noch existierten, neue Jobs gefunden, dafür aber eine massive Lohneinbusse hingenommen.
Denn Verso zahlte gut, gegen 28 Dollar pro Stunde. Andere Angestellte würden nun jeden Tag über kurvige Landstrassen in weit entfernte Kleinstädte fahren, weil man dort mehr Geld verdienen könne. Aber vergleichbar seien diese Jobs nicht. Hinzu komme: Die Belegschaft der Papierfabrik wies ein hohes Durchschnittsalter auf, viele waren über 50 Jahre alt. Und die meisten Verso-Angestellten standen buchstäblich seit Jahrzehnten auf der Lohnliste der Papierfabrik, waren also hochspezialisiert.
Nun sind sie unqualifiziert für die Arbeit in anderen Produktionsunternehmen. Harvey verweist auf seine 37 Dienstjahre und darauf, dass vier Generationen seiner Familie für die Papierfabrik arbeiteten, die Hochglanzpapier herstellte. Seine Zukunft sei offen, sagt er. Er werde sich zuerst um seine Gewerkschaftsmitglieder kümmern und das Büro offen behalten, bis sämtliche Fragen beantwortet und sämtliche bürokratischen Probleme geklärt seien. Dann sehe er weiter. «Für den Ruhestand ist es noch zu früh», sagt der 58-Jährige.
Klar ist: In Luke oder Westernport oder Piedmont warten nur wenige Firmen auf Arbeitslose wie Harvey. Ein Rundgang durch die Dörfer, in denen dank der Papierfabrik einst fast 10'000 Menschen wohnten, zeigt bejahrte Häuser, geschlossene Läden und verbarrikadierte Firmengebäude. Ein stattliches Doppel-Einfamilienhaus, das zum Verkauf ausgeschrieben ist, kostet bloss 39'000 Dollar.
Das ist umso auffälliger, als doch die amerikanische Konjunktur derzeit boomt. Fast kein Tag vergeht, an dem sich Präsident Donald Trump nicht damit brüstet, die Volkswirtschaft Amerikas auf Vordermann gebracht zu haben, dank einer Steuerreform und des Abbaus staatlicher Auflagen. Eigentlich müsste davon auch der Verwaltungsbezirk Allegany profitieren, zu dem die Dörfer Luke und Westernport zählen – notabene eine veritable Hochburg Trumps und seiner Partei.
Dass dem nicht so ist, sollte allerdings niemanden überraschen. Denn Experten weisen schon lange darauf hin, dass alte Industriestandorte wie Luke, an Fliessgewässern und Eisenbahn-Knotenpunkten gelegen, weitab von Flughäfen und Autobahnen, zunehmend den Anschluss verlieren – während dynamische Ballungsräume stark an Bewohnern zulegen und reicher werden. Trendige Metropolen wie Austin (Texas), Denver (Colorado) oder Nashville (Tennessee) boomen, während einst florierende Städte wie Youngstown (Ohio), Birmingham (Alabama) und Stockton (Kalifornien) darniederliegen.
So ist es in einem Bericht der Washingtoner Denkfabrik Economic Innovation Group nachzulesen, die durch den ehemaligen Internet-Unternehmer Sean Parker (Napster und Facebook) gegründet wurde. Der Bericht legt den Fokus auf die Jahre seit der Finanzkrise, den längsten Aufschwung in der amerikanischen Geschichte. Und die Autoren ziehen ein brutales Fazit: «Der Graben zwischen prosperierenden Gemeinden und solchen, die sich abstrampeln, wird immer grösser», ganz egal, welchen Indikator man konsultiere.
Daran habe auch Präsident Trump nichts geändert, obwohl der republikanische Präsident seine Wahl doch auch Wählern aus der Provinz verdanke. Wenn auch die Economic Innovation Group in einem separaten Bericht zum Schluss kommt, dass in «roten» Verwaltungsbezirken, in denen republikanische Wähler die Mehrheit stellen, etwas mehr Stellen geschaffen wurden als in «blauen» Verwaltungsbezirken, in denen die Demokraten den Ton angeben. Die Differenz beträgt allerdings in den vergangenen zwei Jahren nur gerade 0.2 Prozentpunkte.
Zurück in Westernport, im Büro des Gewerkschafters Greg Harvey. Darauf angesprochen, dass es für ihn weit einfacher wäre, in Washington oder in einer anderen Grossstadt einen neuen Job zu finden, sagt er: «Ich liebe diese Gegend. Ich liebe die vier Jahreszeiten. Ich liebe die Berge. In einer Stadt hat es zu viel Asphalt.» Er bleibe seiner Heimat deshalb treu, ökonomische Lage hin oder her, sagt Greg Harvey.
Trotzdem ist die geleistete Bruttoarbeitszeit bei etwa 10h pro Tag, zusätzlich kommt dann die 24/7 Erreichbarkeit. Unterm Strich waren über 80% der MAs ungenügend. Und traurigerweise, obwohl knapp 50% der Bevölkerung schwarz ist, waren kaum mehr als 5% der Angestellten Nicht-Weisse.
Folge: Neuorientierung, bevor man an einer Infoveranstaltung unter Tränen die Schliessung der Fabrik oder einen massiven Stellenabbau mitgeteilt bekommt.
Diese Einzelschicksale tun mir sehr leid. Jedoch liegt es an jedem Einzelnen abzuwägen ob es in der heutigen Zeit und in Zukunft meine Berufsspezialisierung noch benötigt. Der Arbeitsmarkt ist und bleibt knallhart!