Es ist nicht nur ein Tropfen, der das Fass der drei Länder seit Jahrzehnten regelmässig zum Überlaufen bringt. Es ist ein ganzer Fluss – der Nil. Mit dem Bau des grössten Staudamms Afrikas hat der Konflikt der Nilanrainer um die Wasserverteilung weiter zugenommen.
Das Projekt Grand-Ethiopian-Renaissance-Talsperre – kurz GERD – sorgt seit Jahren für Streit zwischen Äthiopien, Ägypten und dem Sudan. Es kam bereits zu Kriegsdrohungen und zahlreichen Vermittlungsversuchen, zuletzt im April 2020. Nun wurde die erste Turbine durch die Äthiopier eingeweiht.
Das Riesenprojekt bedeutet nicht nur einen gewaltigen Eingriff in die Natur, es ist längst auch ein Politikum.
Der Nil entspringt in den Bergen von Ruanda und Burundi, schlängelt sich durch Tansania, Uganda und den Sudan, bevor er in Ägypten ins Mittelmeer mündet. Der rund 6650 Kilometer lange Fluss ist einer der längsten Wasserwege der Welt. Er versorgt über zehn Staaten mit Wasser und verschafft auch der grössten Trockenwüste der Welt, der Sahara, fruchtbaren Lebensraum.
Während die Länder am Oberlauf nicht so sehr ans Flusswasser gebunden sind, ist der afrikanische Strom die Lebensader Äthiopiens, des Sudans und vor allem Ägyptens. Das Land der Pharaonen ist fast komplett vom Wasser des Nils abhängig. Das Gewässer deckt 97 Prozent des ägyptischen Wasserverbrauches. Die Mehrheit der über 100 Millionen Einwohner lebt in der Nähe des Nilufers.
Den Löwenanteil des Flusses sicherten sich die Ägypter schon vor Jahrzehnten. Die Wasserverteilung geht bis in die Kolonialzeit zurück: Um die Bewässerung der Baumwollfelder zu garantieren, schrieben die Briten dem damals unter britischem Einfluss stehenden Königreich 1902 ein «historisches Anrecht» auf den Nil zu. Andere Nil-Anrainer wurden aussen vor gelassen. Die Äthiopier mussten den Briten gar versprechen, am Oberlauf des Nils keine Dämme zu bauen.
Seither hat sich viel getan. Nach Sudans Unabhängigkeit handelte das Land 1959 mit den Ägyptern ein neues Abkommen aus. So sicherte sich der Sudan 18,5 Milliarden Kubikmeter Wasser pro Jahr – Ägypten behielt 55,5 Milliarden. Die beiden Anteile entsprachen 7 Prozent des Flusses. Doch eines blieb gleich: Die Äthiopier wurden erneut nicht berücksichtigt.
Trotz knappen Ressourcen verzeichnet Äthiopien seit Jahren rasante Entwicklungsfortschritte. 2018 kürte der Internationale Währungsfonds (IWF) das Land zur schnellst wachsenden Volkswirtschaft in Afrika. Doch die Entwicklung wird durch den Strommangel stark behindert. Rund 14 Millionen der 100 Millionen Einwohner Äthiopiens haben keinen Zugang zu Elektrizität.
Um dieses Problem zu lösen und um die «ungerechtfertigte Wasserverteilung» zu korrigieren, begannen die Äthiopier 2011 entgegen dem damaligen Versprechen mit dem Bau eines riesigen Staudamms am blauen Nil. Der blaue Nil ist neben dem weissen Nil einer der beiden Hauptstränge des Flusses. Obwohl er kürzer ist, strömt aus ihm das meiste Wasser.
Mit 6000 Megawatt Jahresleistung soll der Staudamm das grösste Wasserkraftwerk in Afrika werden. Äthiopien sieht darin eine Riesenchance.
Die GERD-Staumauer könnte in Äthiopien den Weg zur Industrialisierung frei machen und tausende Menschen von der Armut befreien. Für die Äthiopier mag die Talsperre ein Segen sein – doch stromabwärts ergibt sich ein völlig anderes Bild.
Der Bau des Staudamms schürt besonders in der Nachbarschaft Ängste: Ägypten und der Sudan fürchten um ihr Trinkwasser. Bereits jetzt leidet Ägypten unter Wasserknappheit und befindet sich unter der Wasserarmutsgrenze von 1000 Kubikmeter Wasser pro Kopf pro Jahr. Da können selbst kleine Veränderungen grosse Folgen haben.
Dies zeigte sich bereits bei vielen Flussläufen und Kanälen im Nildelta, die aufgrund der immer weiter steigenden Temperaturen ausgetrocknet sind. «Grosse Staudammprojekte schafften mehr Probleme, als sie lösten», sagt Theresa Schiller, Expertin für internationale Süsswasserthemen der grössten internationalen Natur- und Umweltschutzorganisation WWF.
Äthiopien allerdings ist der Ansicht, dass der Staudamm keine Auswirkungen auf den Unterlauf des Nils haben wird. Gemäss Einschätzungen der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group ist Ägyptens Wasserversorgung vor allem wegen seines Assuan-Stausees nicht bedroht – solange es zu keinen langanhaltenden Dürreperioden kommt.
Genau diese Dürreperioden sind umstritten. Denn nach wie vor ist unklar, wie viel Wasser Äthiopien im Falle einer anhaltenden Dürre stauen darf. Ägypten möchte eine garantierte Wassermenge festlegen, die dem Land jährlich zur Verfügung steht. Äthiopien wünscht sich eine flexiblere Lösung und befürchtet im Falle einer anhaltenden Dürre den Pegel im Staubecken zu tief absenken zu müssen. Auch können sich die Parteien noch nicht einigen, wie Konflikte bezüglich des Dammes gelöst werden sollen.
Ein unbestreitbarer Punkt ist die Bodenversalzung. Der Eingriff in den natürlichen Prozess des Flusses führt zu einer Versalzung der Böden. Dies wiederum schadet besonders der Agrarproduktion – und könnte Ägypten in eine wirtschaftliche und humanitäre Katastrophe manövrieren. Im Land wird zwar viel Landwirtschaft betrieben, trotzdem importiert Ägypten bereits heute rund 60 Prozent der notwendigen Lebensmittel aus dem Ausland.
Der Sudan ist nicht so sehr vom Nilwasser abhängig wie Ägypten. Trotzdem teilt das Land einerseits die Bedenken von Ägypten, zum anderen sieht man im Staudamm aber auch einen Profit. Das fragile Land würde von der günstigen Stromversorgung vom Nachbarn profitieren.
Für den Sudan könnten sich mit dem Staudamm gleich zwei Probleme lösen: Neben der Stromversorgung die Überschwemmungen. Der Pegel des Nils im Sudan schwankt jeweils bis zu acht Meter, fast jährlich kommt es zu Überschwemmungen. Der Damm könnte dies ausgleichen.
Obwohl der Sudan vom Projekt profitieren könnte, warnte die Regierung Äthiopien einst vor einem Wasserkrieg, «der schrecklicher sein würde, als man sich ihn vorstellen kann».
Der Staudamm bringt nicht nur wirtschaftliche Veränderungen mit sich, sondern hat auch einen grossen Einfluss auf die Tierwelt. Staudämme verändern viele Ökosysteme. Besonders der Nil ist einer der wichtigsten Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten. Die Wasserqualität spielt dabei eine entscheidende Rolle. Dies hat der Assuan-Staudamm bereits gezeigt: Durch die fehlenden Nährstoffe im Wasser kam es zu einem drastischen Rückgang der Fischbestände.
Einige Veränderungen im Wasser stellen auch für die Menschen eine Gefahr dar. Die Profiteure von Staudämmen sind Saugwürmer der Gattung Schistosoma (Pärchenegel). Ihre Zwischenwirte sind Wasserschnecken, die in Bewässerungsanlagen leben. Beim Schwimmen oder Waschen können die Egel beim Menschen Infektionen auslösen.
Staudämme verändern das Leben vieler Tiere. Doch gerade grosse Reservoirs könnten in Dürrezeiten eine ideale Wasserquelle für Tiere bieten. Könnten. Denn meistens sind diese Bereiche für Tiere nicht zugänglich und nur kleine Tiere sowie Vögel profitieren davon.
Der Mega-Staudamm ist schon fertig gebaut, ohne dass eine rechtsverbindliche Vereinbarung mit Kairo und Khartum getroffen wurde. Der Ministerpräsident Abiy Ahmed weihte die erste der 13 Turbinen des Damms am Sonntag mit 375 Megawatt ein. «Von nun an wird es nichts mehr geben, was Äthiopien aufhalten könnte», sagte Ahmed an der Veranstaltung.
The biggest dam in Africa,the Grand Ethiopian Renaissance Dam {GERD} has started generating electric power from its first unit.
— 𝐒𝔞ሮን 🇪🇹🕊 (@SaronSaricho) February 20, 2022
This is a huge success for Ethiopians 🇪🇹 and Africans! CONGRATULATIONS! 🎉🎊✍🇪🇹 pic.twitter.com/4FtDyWFmX0
In seiner Rede betont er, dass Äthiopien nicht beabsichtige, jemand anderem zu schaden. Das 4.2 Milliarden Dollar teure Projekt soll nach seiner Fertigstellung bis zu 6000 Megawatt Strom erzeugen. Bis dahin werde es noch zweieinhalb oder drei Jahre dauern.
Ägyptens Staatschef Abdel Fattah Al-Sisi betonte in den vergangenen Jahren immer wieder, wie wichtig eine Verhandlungslösung sei. Doch die Verhandlung zwischen Addis Abeba, Kairo und Khartum steckt seit Jahren in einer Sackgasse.
2015 unterzeichneten die Staatschefs eine Grundsatzerklärung, 2020 scheiterten die Besprechungen an juristischen Fragen. Bislang konnten sich die drei Ländern nicht auf ein Abkommen einigen. Diverse Streitschlichter, darunter die Afrikanische Union, sind an einer Lösungssuche gescheitert, wobei Ägypten und der Sudan das Scheitern auf die Unnachgiebigkeit Äthiopiens zurückführten.
Im darauffolgenden Jahr änderte Ägyptens Staatschef seinen Tonfall und warnte gar vor einem militärischen Konflikt. Äthiopiens Minister Seleshi Bekele versuchte, die Spannungen zu entschärfen. «Es gibt keinen Grund, einen unnötigen Krieg zu beginnen». Die Drohungen hielten Äthiopien nicht von dem Projekt ab.
Und nun? Bislang hat sich Ägyptens Aussenminister noch nicht gross zur Inbetriebnahme geäussert. In einer ersten Erklärung wirft er Äthiopien vor, gegen die Grundsatzerklärung verstossen zu haben. Äthiopien habe weitere einseitige Massnahmen zur Nutzung des Flusswassers ergriffen, wie dies auch beim Auffüllen des Staudamms der Fall war. Der Sudan hat sich bisher noch nicht geäussert. Das letzte Wort ist ganz sicher noch nicht gesprochen.
Ägypten sollte massenhaft Solaranlagen bauen und den südlichen Nachbarländern günstigen Strom liefern. Im Gegenzug lassen die die Wasser des Nils unberührt fliessen.