Wenn Sie an Italien denken, was fällt Ihnen als Erstes ein? Das ökonomische Gefälle zwischen Nord und Süd? Die Rüstungsausgaben? Die postfaschistische Regierungschefin? Oder sind es der Duft der Zypressen in der Toskana, das Pantheon in Rom und die Strände der Amalfiküste? Bei Spanien denken viele wohl eher an Tapas als an Franco, Paris ist der Eiffelturm und nicht seine Banlieues.
Und was verbinden Sie mit der Ukraine heute? Die Potemkinsche Treppe in Odessa, von der aus man das Schwarze Meer sehen und verstehen kann, woher es seinen Namen hat? Die endlose Weite der Karpaten? Das Nachtleben in Kiew?
Oder sind es der aktuelle Frontverlauf, die Schlacht von Mariupol und die Gräuel von Butscha? Selbst vor dem Angriffskrieg war die Ukraine für viele die Annexion der Krim durch Russland oder die Maidan-Proteste.
Orte sind uns näher, wenn wir sie kennen und wenn wir etwas mit ihnen verbinden, das in irgendeiner Form sinnlich ist – ob nun die Jugendliebe an der Nordsee oder die Fischvergiftung in Antwerpen.
Das ist keine profane Feststellung, sondern hat eine gewisse Tragweite. Die Ukraine hat das verstanden, und deshalb bietet die Website Visit Ukraine, eine Art teilstaatliche Tourismusagentur, wie sie die meisten Länder weltweit betreiben, mittlerweile wieder Reisen ins Land an. Auf den ersten Blick wirkt das makaber. Historische Führungen durch die Hauptstadt sind im Angebot, Wochenendtrips nach Lwiw, sogar Dnipro und Odessa stehen auf dem Programm. Die Stadt wurde erst kürzlich wieder von Russland mit Streumunition beschossen.
Mehr noch, Interessierte können sich Pressetouren in die befreiten Städte Butscha und Irpin anschliessen, für knapp anderthalbtausend Euro.
Ganz Wagemutige haben die Gelegenheit, sich bei einer «Spendentour» einer Freiwilligenmission in Mykolajiw und im Gebiet Cherson zu beteiligen. Die Touren werden zwar als «safe tours» beworben, es heisst auf der Website jedoch auch: Deshalb bietet Visit Ukraine direkt Versicherungspakete und Sicherheitstipps an.
Ist das nun geschmacklos? Leichtsinnig? Geldmacherei in Zeiten, in denen dark tourism boomt? Die Ukraine hat das jahrelang in Tschernobyl kultiviert, einem Ort, der heute doppelt apokalyptisch aussieht, weil dort nun nicht nur die nach der Reaktorkatastrophe verlassenen Gebäude stehen, sondern auch Spuren der ersten Kriegstage zu sehen sind. Neben den Warnschildern für Strahlung warnen nun andere Schilder vor Minenfeldern.
Vielleicht ist die Idee von Visit Ukraine von all dem ein bisschen, aber sie ist vor allem: strategisch klug. Erstens bringt sie Geld ein. Keine nennenswerten Summen zwar, aber die Ukraine braucht jeden Euro. Und zweitens ist sie ein (verzweifelter) Versuch, die Deutungshoheit über die Geschichte zu wahren.
Nur wenige haben seit Februar 2022 das Land betreten, vor allem Soldaten und Söldner, Journalistinnen und Freiwillige, Politikerinnen und Heimkehrer. Solche Augenzeugenberichte prägten vor allem in den ersten Kriegsmonaten das Stimmungsbild in den westeuropäischen Ländern.
Das Interesse an solchen persönlichen Schicksalen ist hierzulande im zweiten Jahr des Krieges gesunken. Reporter kommen seltener ins Land, Leserinnen lesen andere Geschichten. Die Krisen der Welt sind ungeduldig, der Nahe Osten, das Klima, die Wirtschaft, der Rechtsruck. Die geflüchteten Ukrainerinnen haben sich in ihrer jeweiligen neuen Heimat eingerichtet, die Willkommenszelte an den Bahnhöfen Europas sind längst abgebaut.
Die Wahrnehmung dieses grossen europäischen Krieges ist zu einer der Zahlen geworden: Reichweiten von Marschflugkörpern, Verschiebungen des Frontverlaufs, die Höhe von Hilfspaketen, Kosten von Waffenlieferungen. Diese Werte kartografieren den Krieg, begreifbar machen sie ihn nicht.
Die Ukraine besteht aber nicht nur aus Luftalarm und Ruinen, aus Uniformierten und Gräbern. Ich bin im ersten Kriegsjahr mit einem jungen Paar aus Kiew in den Karpaten gewesen. Wir bestiegen den Howerla, den höchsten Berg der Ukraine. Die Frau war schwanger, beide wollten ein wenig Abstand vom Geheul der Sirenen. Gelegentlich sehe ich heute auf Bildern bei Instagram, wie das Kind im Krieg aufwächst. Später am Abend sass ich mit Soldaten auf Fronturlaub in einer Sauna und wir tranken Bier. Die Männer kamen aus dem Donbass und schämten sich ein bisschen, weil sie sich eine Woche Auszeit vom Schützengraben gönnten. Wer von ihnen noch lebt, weiss ich nicht. Im vorigen Sommer sassen mein Fotograf und ich in den Dünen von Odessa, wir sprachen mit Menschen, die trotz der Seeminen im Meer schwammen. Sie wollten es sich nicht nehmen lassen.
Darum geht es letztlich auch beim Vorhaben, Touristen in die Ukraine zu holen, selbst wenn eine solche Reise derzeit aus vielen Gründen nicht ratsam ist. Es ist der Versuch, den Krieg genauso wie das Leben im Land begreifbar zu machen. Und es ist der Versuch, das Land zu etwas zu machen, mit dem Menschen etwas verbinden können. Etwas, das sie vermissen könnten.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.