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Die Ukraine bietet Ferien in Butscha an – das steckt dahinter

School children sing Ukraine's national anthem as they attend a ceremony of the first day in school in Bucha, Ukraine, Friday, Sept. 1, 2023. Ukraine marks Sept. 1 as Knowledge Day, as a traditio ...
Mädchen singen die Nationalhymne an ihrem ersten Schultag. Sie leben in Butscha.Bild: keystone

Ferien in Butscha

Die Ukraine bietet aktiv Urlaubsreisen ins Land an. Das klingt zunächst morbide, ist aber strategisch klug: Das Land im Krieg kämpft um sein Bild in der Welt.
08.05.2024, 11:33
Christian Vooren / Zeit Online
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Zeit Online

Wenn Sie an Italien denken, was fällt Ihnen als Erstes ein? Das ökonomische Gefälle zwischen Nord und Süd? Die Rüstungsausgaben? Die postfaschistische Regierungschefin? Oder sind es der Duft der Zypressen in der Toskana, das Pantheon in Rom und die Strände der Amalfiküste? Bei Spanien denken viele wohl eher an Tapas als an Franco, Paris ist der Eiffelturm und nicht seine Banlieues. 

Und was verbinden Sie mit der Ukraine heute? Die Potemkinsche Treppe in Odessa, von der aus man das Schwarze Meer sehen und verstehen kann, woher es seinen Namen hat? Die endlose Weite der Karpaten? Das Nachtleben in Kiew?

Beautiful panoramic view of the Odessa State Academic Opera and Ballet Theater early in the morning without people. Building for art, landmark, building in the style of the new Viennese baroque
Die Oper in Odessa vor dem Krieg.Bild: shutterstock

Oder sind es der aktuelle Frontverlauf, die Schlacht von Mariupol und die Gräuel von Butscha? Selbst vor dem Angriffskrieg war die Ukraine für viele die Annexion der Krim durch Russland oder die Maidan-Proteste.

Orte sind uns näher, wenn wir sie kennen und wenn wir etwas mit ihnen verbinden, das in irgendeiner Form sinnlich ist – ob nun die Jugendliebe an der Nordsee oder die Fischvergiftung in Antwerpen.

Das ist keine profane Feststellung, sondern hat eine gewisse Tragweite. Die Ukraine hat das verstanden, und deshalb bietet die Website Visit Ukraine, eine Art teilstaatliche Tourismusagentur, wie sie die meisten Länder weltweit betreiben, mittlerweile wieder Reisen ins Land an. Auf den ersten Blick wirkt das makaber. Historische Führungen durch die Hauptstadt sind im Angebot, Wochenendtrips nach Lwiw, sogar Dnipro und Odessa stehen auf dem Programm. Die Stadt wurde erst kürzlich wieder von Russland mit Streumunition beschossen.

Mehr noch, Interessierte können sich Pressetouren in die befreiten Städte Butscha und Irpin anschliessen, für knapp anderthalbtausend Euro.

Mit solchen Bildern ging Butscha in die Weltgeschichte ein:

A man and child on a bicycle come across the body of a civilian lying on a street in the formerly Russian-occupied Kyiv suburb of Bucha, Ukraine, Saturday, April 2, 2022. (AP Photo/Vadim Ghirda)
Am 2. April 2022 schaute die Welt geschockt nach Butscha in der Nähe von Kiew. Bild: keystone
FILE - Volunteers load bodies of civilians killed in Bucha onto a truck to be taken to a morgue for investigation, in Bucha on the outskirts of Kyiv, Ukraine, Tuesday, April 12, 2022. (AP Photo/Rodrig ...
Die Leichensäcke wurden in Butscha knapp.Bild: keystone

Heute ist Butscha wieder aufgebaut. Diese Tafeln erinnern an die Opfer der russischen Brutalität:

Ukraine, Wolodymyr Selenskyj nimmt an Gedenkveranstaltung in Butscha teil Le prà sident de l Ukraine Volodymyr Zelensky honore la mà moire des Ukrainiens tuàs par les envahisseurs lors de l occupatio ...
Butscha am 31. März 2023.Bild: www.imago-images.de

Ganz Wagemutige haben die Gelegenheit, sich bei einer «Spendentour» einer Freiwilligenmission in Mykolajiw und im Gebiet Cherson zu beteiligen. Die Touren werden zwar als «safe tours» beworben, es heisst auf der Website jedoch auch: Deshalb bietet Visit Ukraine direkt Versicherungspakete und Sicherheitstipps an.

«Es gibt derzeit keine vollständig sicheren Städte in der Ukraine.»

Es geht um die Deutungshoheit über die Geschichte

Ist das nun geschmacklos? Leichtsinnig? Geldmacherei in Zeiten, in denen dark tourism boomt? Die Ukraine hat das jahrelang in Tschernobyl kultiviert, einem Ort, der heute doppelt apokalyptisch aussieht, weil dort nun nicht nur die nach der Reaktorkatastrophe verlassenen Gebäude stehen, sondern auch Spuren der ersten Kriegstage zu sehen sind. Neben den Warnschildern für Strahlung warnen nun andere Schilder vor Minenfeldern. 

Vielleicht ist die Idee von Visit Ukraine von all dem ein bisschen, aber sie ist vor allem: strategisch klug. Erstens bringt sie Geld ein. Keine nennenswerten Summen zwar, aber die Ukraine braucht jeden Euro. Und zweitens ist sie ein (verzweifelter) Versuch, die Deutungshoheit über die Geschichte zu wahren. 

Nur wenige haben seit Februar 2022 das Land betreten, vor allem Soldaten und Söldner, Journalistinnen und Freiwillige, Politikerinnen und Heimkehrer. Solche Augenzeugenberichte prägten vor allem in den ersten Kriegsmonaten das Stimmungsbild in den westeuropäischen Ländern. 

Das Interesse an solchen persönlichen Schicksalen ist hierzulande im zweiten Jahr des Krieges gesunken. Reporter kommen seltener ins Land, Leserinnen lesen andere Geschichten. Die Krisen der Welt sind ungeduldig, der Nahe Osten, das Klima, die Wirtschaft, der Rechtsruck. Die geflüchteten Ukrainerinnen haben sich in ihrer jeweiligen neuen Heimat eingerichtet, die Willkommenszelte an den Bahnhöfen Europas sind längst abgebaut.

Zahlen machen den Krieg nicht begreifbar

Die Wahrnehmung dieses grossen europäischen Krieges ist zu einer der Zahlen geworden: Reichweiten von Marschflugkörpern, Verschiebungen des Frontverlaufs, die Höhe von Hilfspaketen, Kosten von Waffenlieferungen. Diese Werte kartografieren den Krieg, begreifbar machen sie ihn nicht. 

Jetzt auf

Die Ukraine besteht aber nicht nur aus Luftalarm und Ruinen, aus Uniformierten und Gräbern. Ich bin im ersten Kriegsjahr mit einem jungen Paar aus Kiew in den Karpaten gewesen. Wir bestiegen den Howerla, den höchsten Berg der Ukraine. Die Frau war schwanger, beide wollten ein wenig Abstand vom Geheul der Sirenen. Gelegentlich sehe ich heute auf Bildern bei Instagram, wie das Kind im Krieg aufwächst. Später am Abend sass ich mit Soldaten auf Fronturlaub in einer Sauna und wir tranken Bier. Die Männer kamen aus dem Donbass und schämten sich ein bisschen, weil sie sich eine Woche Auszeit vom Schützengraben gönnten. Wer von ihnen noch lebt, weiss ich nicht. Im vorigen Sommer sassen mein Fotograf und ich in den Dünen von Odessa, wir sprachen mit Menschen, die trotz der Seeminen im Meer schwammen. Sie wollten es sich nicht nehmen lassen. 

Darum geht es letztlich auch beim Vorhaben, Touristen in die Ukraine zu holen, selbst wenn eine solche Reise derzeit aus vielen Gründen nicht ratsam ist. Es ist der Versuch, den Krieg genauso wie das Leben im Land begreifbar zu machen. Und es ist der Versuch, das Land zu etwas zu machen, mit dem Menschen etwas verbinden können. Etwas, das sie vermissen könnten. 

Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.

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28 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Hood68
08.05.2024 12:57registriert Dezember 2023
Meine nächsten Ferien bin ich bestimmt in der Ukraine da gehe ich helfe und zwar nichts großes nur Hand langer, Kochen, Essenreichen und da sein für die Leute und Kinder so macht man etwas sinnvolles und hat das Gefühl wenigstens marginales den Ukrainer etwas geben zu können. Leider wird es in der Schweiz nicht immer gutgeheißen weder von teilen Nachbaren noch von Teilen meiner eigener Familie aber eben so ist es halt und bleibt es auch .
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Latvietis1101
08.05.2024 12:17registriert Oktober 2023
Ich bin auch zurück von einer wunderschönen Ferienwoche in Odessa. Tolle Stadt, nette Menschen und sehr günstige Hotels/ Restaurants. Was will man mehr? Die Lage am Schwarzen Meer ist wirklich einmalig, nur die langen Wartezeiten an der Grenze sind etwas mühsam. Ich kann nur jedem empfehlen, die Ukraine zu unterstützen!
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Martin Baumgartner
08.05.2024 12:11registriert Juni 2022
Reisen ist immer noch die intensivste Art und Weise zu lernen. Aber wie kann man ein Land bereisen wenn einem bewusst ist, dass dort in den Schützengräben und Städten jeden Tag Menschen umkommen.
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