Die Vororte von Paris in den 90ern. Der Film ist schwarz-weiss – wie auch die Unterteilung der Lager. Auf der einen Seite ziehen wütende Jugendliche mit Steinen auf, auf der anderen gehen Polizisten in voller Montur in Stellung. «Auge in Auge mit wilden Tieren», sagt dazu eine dramatische Stimme. Die Kamera fährt über die Gesichter der Cops, während sie an einem Mannschaftswagen lehnen – und Schweinegrunzen wird laut.
Hinter dem Wagen sieht der Zuschauer, wie ein Jugendlicher den Polizeiwagen beschmiert. Aus dem Off tönt es: «Starsky macht wieder seine gewohnten Dummheiten. Er ist das jüngste Mitglied der Bande – und ein echter Charakter! Voller Leben, extrem neugierig und ziemlich schelmisch. Er hat vor Kurzem die Macht seiner Analdrüse entdeckt, die für Duftmarken verwendet wird, und hat alles markiert, an das er nur sein Bein heben konnte.»
Spätestens jetzt ist klar: Ja, wir sehen hier «La Haine», auf Deutsch «Hass», in dem Regisseur Mathieu Kassovitz 1995 die Unruhen in Frankreichs Trabantenstädten thematisiert hat. Nur der Ton ist nicht ganz richtig – obwohl der durch die Verfälschung doch genau getroffen wird: Ein Schweizer Trio hat den Streifen mit dem Sound von Tierdokumentationen unterlegt und präsentiert das absurd-amüsante Ergebnis am 24. Februar um 20 Uhr im ewz-Unterwerk Selnau der Öffentlichkeit.
Dass ihre Arbeit durch das Attentat auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» ungewollt wieder an Aktualität gewonnen hat, war nicht geplant, erklären Rapper Skor und seine Kompagnons Tinguely dä Chnächt und Soundingenieur Crazeebo im Gespräch mit watson: Sie hatten für den Job bereits im Oktober zugesagt. Andererseits könne man einen Film wie «La Haine» auch alle zehn Jahre drehen.
Wie seid ihr auf die Idee gekommen, «La Haine» ausgerechnet mit dem Sound aus Tier-Dokus zu unterlegen?
Skor: Meine erste Idee war eigentlich, etwas mit dieser Kuh zu machen, die Vinz im Film immer sieht und die eigentlich gar nicht existiert. Wir wollten sie als Erzähler inszenieren, aber der Tinguely hatte dann den Einfall, etwas mit Tierfilmen zu machen. Crazeebo fand das auch super. Wir haben dann Samples gesucht und dann gab es diese «magic moments», in denen es immer wahnsinnig gut gepasst hat. Wir haben zum Teil Tränen gelacht!
Wie viele Samples verwendet ihr?
Skor: Zwischen 60 und 70. Es ist sehr kurzweilig, ohne dass die Dramaturgie verloren geht.
Performt ihr bei der Vorstellung auch live?
Skor: Der Soundteppich ist so eingebunden, dass ein echtes Kinoerlebnis entsteht. Es gibt nur einen Live-Auftritt, mehr wäre Effekthascherei gewesen. 99,9 Prozent der Arbeit werden vorher erledigt.
Der Film behandelt ein ernstes Thema. Wird das durch Tiergeräusche nicht ins Lächerliche gezogen?
Skor: Überhaupt nicht, es gibt Einspieler, die die Tragik der Szenen noch untermalen und es eröffnet sogar neue Perspektiven.
Wie viele Dokus musstet ihr sichten?
Skor: Wir haben schon speziell auf den Abend hin Dokus geschaut. Ich habe mich dann mit Tinguely getroffen und wir haben pro Session bestimmt drei Filme geguckt. Insgesamt waren es vielleicht 10 bis 15 Stunden.
Crazeebo, du hast von 1987 bis 1990 in Paris gelebt. Was bedeutet «La Haine» für Frankreich?
Crazeebo: In der Banlieue bist du ausserhalb, im wahrsten Sinne des Wortes verbannt. Der Film drückt ein Lebensgefühl aus: Frankreich war das erste Land in Europa ausser Grossbritannien, das in seiner Muttersprache gerappt hat. 1983 gab es die erste entsprechende Fernsehsendung. «La Haine» hat viel mit Hip-Hop zu tun und viele Kids inspiriert. Der Film wird einer ganzen Generation gerecht, auch wenn er erst 1995 rausgekommen ist.
Obwohl das Problem ja nicht auf Frankreich beschränkt ist ...
Crazeebo: Man darf nicht vergessen, dass Frankreich die Menschenrechte erfunden hat!
Skor: Liberté, Égalité, Beyoncé …
Das Gefühl von Wut gegen «die da oben» ist ein zeitloses Thema.
Skor: Und ein weltweites. Es mag ja ein utopischer Gedanke sein, aber es sollte ja allen gut gehen. Aber die Probleme sind ja auch bekannt – und Lösungen können wir jetzt auch nicht anbieten.
Der Film weckt natürlich auch Erinnerungen an die Unruhen in Zürich in den 80ern.
Skor: Vielleicht wurde hier auf höherem Niveau geklagt, aber es geht bei beiden Ereignissen ja um fehlende Freiräume. Und wenn du heute drei Kinder hast und versuchst, in Zürich eine Wohnung zu finden, die von einem Gehalt gezahlt werden kann, ist das unmöglich. Auch wenn ich schon 20 Jahre in der Stadt gelebt habe, muss ich dann in die Aussenquartiere ziehen. Ich befürworte zwar keine Riots, aber sehr wohl, dass man auf die Strasse geht, wenn man verdrängt wird. Man kann Paris und Zürich vielleicht nicht vergleichen, aber die Ansätze sind dieselben.
Glaubt ihr denn, sowas könnte hier wieder passieren?
Skor: Sicher!
Crazeebo: Früher gab es keine Jugendhäuser und dafür gingen die Leute auf die Strasse. Ein Unterschied ist sicherlich, dass ein Schwarzer Block heute nicht mehr eine Agenda hat so wie die Jugendlichen in den 80ern. Die wollten einfach in Ruhe gelassen werden.
Skor: Gut, sowas gibt es heutzutage natürlich auch noch in Zürich. Frag mal die jungen Secondos, die ohne Verdacht dauernd kontrolliert werden. Das schränkt einen jungen Menschen ein und ist meinungsbildend bei seiner Sicht auf Staat und Polizei. Aber einfach nur mehr Freiräume zu fordern, ist zu wenig, da gebe ich Crazeebo recht.
Crazeebo: Wir wollten anfangs auch Samples aus «Züri brännt» mit hineinnehmen, aber es hat überhaupt nicht gepasst und war auch etwas völlig anderes.
Skor: Die Tragik ist in Frankreich wirklich völlig anders, damals wie heute. Nur die Ansätze sind dieselben.
Das sind ernste Themen, aber du hast noch gar nichts gesagt, Tinguely. Deshalb zum guten Schluss noch eine sanfte Frage an dich: Was hast du von Tier-Dokus gelernt?
Skor: Oh ja, bitte!
Crazeebo: Haha!
Tinguely: (lakonisch)
Die jagen nur und wollen auch bloss essen, schlafen, überleben – fertig! Wir arbeiten noch für Geld und das ist der Unterschied!