In Deutschland ist es ein gewohntes Bild: Polizisten wachen bewaffnet vor einer Synagoge, der Gehweg ist abgesperrt, Poller verhindern, dass Autos vor dem Gebäude parken. Menschen, die das Gebetshaus betreten wollen, werden genau kontrolliert. Das ist jüdischer Alltag in der Bundesrepublik 70 Jahre nach dem Holocaust.
Ganz anders in Israel: Während hier in Bahnhöfen, Busstationen und Einkaufszentren alle Besucher Sicherheitsschleusen passieren müssen, sind Synagogen fast ungeschützt. Bis zu diesem Dienstagmorgen hat es in der langen Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts keinen Terroranschlag auf eine Synagoge in Israel gegeben.
2008 feuerten palästinensische Attentäter in einer Jerusalemer Religionsschule um sich und töteten acht junge Israelis – bislang der einzige Anschlag auf eine religiöse Einrichtung in Israel.
Zwei Palästinenser aus Ostjerusalem stürmten an diesem Dienstag in die Kehillat Bnei Torah-Synagoge im Stadtteil Har Nof. Die beiden – sie sind Cousins – töteten vier Juden, die sich in dem Gebäude zum Morgengebet versammelt hatten. Drei der Opfer besassen neben der israelischen auch die US-Staatsbürgerschaft, der vierte Tote war Israeli mit britischem Pass. Ein fünftes Opfer, ein Polizist, der zum Tatort geeilt war und Schusswunden erlitt, starb am Abend im Krankenhaus.
Die Synagoge am westlichen Stadtrand von Jerusalem wurde offenbar nicht zufällig als Anschlagziel gewählt: Einer der beiden Attentäter soll nach israelischen Medienberichten in einem Lebensmittelladen in der Nähe des Gebetshauses gearbeitet haben und kannte sich vor Ort aus.
Der Anschlag auf die Synagoge zeigt, dass der Nahost-Konflikt immer mehr zu einem Krieg der Religionen wird. Im Zentrum der aktuellen Eskalation steht der Tempelberg in Jerusalem. Auf dem Plateau am Rande der Altstadt stehen der Felsendom und die Aksa-Moschee, es ist nach Mekka und Medina der drittheiligste Ort im Islam. Dort sollen einst aber auch die jüdischen Tempel gestanden haben, einzig die Klagemauer ist von der alten Pracht übrig geblieben.
Nichtmuslime dürfen nur zu bestimmten Zeiten auf das Plateau. Das israelische Oberrabinat hat angeordnet, dass Juden gar nicht auf den Tempelberg gehen sollen. Eine kleine jüdische Minderheit macht sich aber dafür stark, auf dem Berg nun den dritten jüdischen Tempel zu errichten. Einer der prominentesten Vertreter dieser Gruppe ist der Rabbiner Jehuda Glick, der Ende Oktober von einem Palästinenser angeschossen und schwer verletzt wurde.
In den vergangenen Monaten häuften sich die Angriffe von jüdischen Siedlern gegen Moscheen im Westjordanland. Sie warfen Brandsätze auf die Gebetshäuser und hinterliessen Hassparolen auf den Wänden. Religiöse Einrichtungen – egal ob Synagogen, Moscheen oder Kirchen – sind im Kampf ums Heilige Land kein Tabu mehr.
Sowohl radikale Juden als auch militante Palästinenser handeln mittlerweile auf eigene Faust. Sie sind zwar von den Parolen ihrer fanatischen Anführer aufgestachelt, handeln aber nicht auf konkrete Anweisung. Schon macht in Israel das Schlagwort von der «individuellen Intifada» die Runde. Gemeint sind damit Angriffe von radikalen Palästinensern, die mit Baggern und Autos in Menschenmengen rasen oder Passanten auf offener Strasse niederstechen.
«Diese Terrorattacken entstehen im Kopf von Einzelpersonen. Es gibt keine terroristische Organisation, die einen Befehl dazu erteilt», sagte Boaz Ganor, Direktor des Internationalen Instituts zur Terrorismusbekämpfung in Herzliya, zu «Spiegel Online». «Es gibt auch keinen Planungsprozess, in den mehrere Personen eingebunden sind. Daher ist es für Geheimdienste besonders schwer, diese Art von Terrorismus im Vorfeld zu entdecken und zu verhindern.»
Die Täter dieser jüngsten Anschläge kommen aus Ostjerusalem. Israel hat den Osten der Stadt annektiert und bezeichnet ihn als eigenes Staatsgebiet. Doch die Verwaltung vernachlässigt die arabischen Viertel systematisch. Die dort lebenden Palästinenser haben nicht die gleichen Rechte wie Israelis, viele sind staatenlos. Bewohner erleben die israelische Herrschaft über Ostjerusalem als Willkür – eine kleine Minderheit folgt daher den Aufrufen der Hamas zu Terroranschlägen in Israel.
Israel reagiert mit polizeilichen Massnahmen auf den Anschlag vom Dienstag. Das Viertel Jabal Mukaber, aus dem die Attentäter stammen, wurde abgeriegelt, die Sicherheitskräfte nahmen mindestens 14 Angehörige der beiden Cousins fest.
In ganz Israel sollen zudem die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt werden. «Wir brauchen so viel Polizeipräsenz in den Strassen wie nur möglich», sagte Ganor. «Wir müssen die Zahl der Leute erhöhen, die eingreifen können, wenn ihrer Umgebung etwas geschieht.» Polizeiminister Izchak Aharonovich hat am Dienstag bereits angekündigt, die Ausgabe von Waffenscheinen an Israelis zu erleichtern.
Doch zuerst sollen die Synagogen in Jerusalem besser geschützt werden. Mit massiver Polizeipräsenz – wie man sie aus Deutschland kennt.
Mitarbeit: Nicola Abé