Alain Platel war früher mal Heilpädagoge. Ich hab’s ganz ehrlich nicht so sehr mit Heilpädagogen, aber angenommen, alle Heilpädagogen haben ein bisschen Alain Platel in sich und lassen den irgendwann auf die Welt los, dann kann sich die Welt noch auf viel Schönes und Grosses gefasst machen.
Seit 1988 leitet der Belgier nämlich Les ballets C de la B, die wohl berühmteste Tanztheatertruppe der Welt, ein paar Jahre lang hat er Pause gemacht, jetzt ist er wieder da, und es ist genau so, wie ich ihn von meiner ersten Begegnung her, die nun schon 15 Jahre zurück liegt, in Erinnerung habe: Ungefähr das Beste, was man sich in der Welt des Tanztheaters vorstellen kann. Inhaltlich wie formal. Radikal. Ungefähr, als würde der Cirque du Soleil plötzlich von ultra-anarchistischen Punks geleitet. Und als wären alle Grenzen eingestürzt, die so eine praktisch eingerichtete, normale Existenz ausmachen. Und so einen normalen Körper.
Kommt dazu, dass in seinem aktuellen, bereits international gefeierten Stück «Tauberbach» auch die Musik in sich zusammenstürzt. Denn «Tauberbach» heisst nichts anderes als «Tauber Bach», der polnische Videokünstler Artur Zmijewski liess nämlich taube Menschen Bach singen, und das klingt als klagten Gespenster, als heulten Wölfe, als würde etwas entfernt ähnliches wie menschlicher Gesang von einem ungeheuren Sturmwind zerfetzt. Fahl und fehl.
Das Bühnenbild dazu: Eine Müllhalde aus alten Kleidern. Riesig. Mitten darin: Drei Tänzer, zwei Tänzerinnen, eine Sprecherin. Mikrophone, die von der Decke hängen. Zwei Gerüstschienen, die hoch und runter fahren. Der Grund dafür: Ein Dokumentarfilm, den Platel gesehen hat, über eine schizophrene Frau, die in Rio de Janeiro auf einer Müllhalde lebt und arbeitet. Taubheit, Schizophrenie, Armut also, Ingredienzien die nach Sozialromantik und Vollkitsch klingen, nach Misery Porn im Höchststadium. Und dann ist alles ganz anders. Und das ist die Genialität von Alain Platel.
Schon vor 15 Jahren ging es ihm (auch da gastierte er in der Gessnerallee) um Johann Sebastian Bach, das Stück hiess «Iets Op Bach» und spielte noch nicht auf einer Müllhalde, aber mitten in der schäbigen Bohème von Menschen, die in irgendeiner Grossstadt auf Dächern leben, es war ein Karfreitags-Stück, ein Passionsweg, eine jubilierende und todtraurige Raserei.
Jetzt also das Gegenstück von ganz unten, von jener Halde, auf der die materiellen und menschlichen Restbestände irgendeiner Grossstadt dahinsiechen und allmählich verwesen, denn so dermassen beweglich sind die Tänzerinnen und Tänzer, dass ihre Knochen, Sehnen und Bänder sich bereits in einem Auflösungsprozess befinden müssen, anders ist das alles nicht erklärbar.
Alain Platel will, dass seine Tänzer über ihre Körper zu Regionen ihres Bewusstseins vorstossen, «die von der Zivilisation unberührt sind». Man könnte im Fall von «Tauberbach» auch von einer Rückverwandlung sprechen. Davon, dass die von der Zivilisation Abgefallenen auf der Abfallhalde zu einer kraftvollen, kruden Kreatürlichkeit zurückfinden.
Was sich im klassischen Ballett gepflegt Pas de Deux nennt, also die (heterosexuelle) getanzte Zweisamkeit, das wird bei Platel ganz schlicht auf seinen Kern reduziert: Den Koitus. Und: Einen krasseren Zungenkuss als in «Tauberbach» habe ich auf einer Bühne noch nie gesehen. Zwei Münder verschlingen einander in Extase.
Die Sprecherin wütet derweil (ein bisschen aufdringlich zu Beginn), und aus dem Off tönt eine tiefe Männerstimme, die Kontrolle fordert und alle als «unwert und inkompetent, schlimmer als dreckige Schweine» beschimpft. Es ist dies, ganz einfach, die Stimme des Kapitalismus. Diejenigen, die er ausgestossen hat, die vollbringen unterdessen das furiose Wunder ihrer reinen Existenz. Und fertig.