Tally ist es sehr wichtig, dass man ihren Namen richtig ausspricht. Nicht «Täli», nicht «Thäli» und schon gar nicht «Theily». Tally wie Dali. Wie Salvador Dalí. Das erfahren wir in den ersten drei Sätzen, die Sandro und ich mit DALI wechseln.
Dali ist zweifelsohne sehr attraktiv. Trotz oder vielleicht wegen ihres Vokuhilas. Dieser ist ziemlich bunt. Oben dunkler, wird er im Spitz hinten im Nacken immer heller. Dali trägt eine undefinierbare Hose und ein Trägershirt. Kein BH.
Ihre Arme zieren viele kleine Tattoos. Hier eine Roboterin, da eine Astronautin. Dazwischen überall kleine Schriftzüge wie «Grrl Power», «Equality» oder «The Future is Female».
Ihre Nase ist gepierct. So ein runder Ring, wie ihn Stiere haben. Ihr wisst schon. Dalis Lippen sind pink geschminkt, die Augen dunkel. Sieht super aus, finde ich. Sandro ist raus. Er fand Dali schon uncool, bevor er ihr gegenüberstand.
Der Grund: Sandro ist der Meinung, dass Dali seinen besten Freund abfuckt. Seit sich der Gute Hals über Kopf in sie verliebte, hat er drei Paten-Tiere irgendwo, ernährt sich nur noch vegan und verbringt seine Wochenenden in irgendwelchen Ayahuasca-Hütten oder Workshops, wo alle um ein Feuer tanzen, meditieren, was weiss Sandro.
Was Sandro aber weiss, ist, dass sich Tim, sein BFF, bis vor kurzem noch über Lifestyles wie den von Dali lustig gemacht hat. Nicht böse, nicht fies, aber halt einfach nicht seins. Tim ist ein Kopfmensch, wie ich selten einen getroffen habe.
Jetzt also sitzen wir zu viert in Sandros Küche. Die Initiative kam von mir, nachdem Tim seit Wochen nur noch über Dali redet und Sandro schon 10'000 Mal indirekt gesagt hat, dass er sie ihm vorstellen will.
Was dieser wiederum null geschnallt hat. Ich frage mich derweil, warum es Tim nicht einfach direkt gesagt hat. Wobei doch, eigentlich weiss ich es: Sandro ist super. Und super unangenehm. Wenn er jemanden nicht mag, dann macht er kein Geheimnis draus.
In Dali sieht er nur Bedrohung. Dali bestand nach zwei Wochen Beziehung darauf, diese zu öffnen. Nicht nur, weil sie hie und da gerne auch mit Frauen schläft, sondern weil ihre «Seele Space braucht». Tim, eher konservativ, wollte nicht. Musste aber, weil «ich sie sonst verliere».
So kommt's, dass Dali an den Tantra-Whatever-Weekends nun locker flockig vor Tim mit anderen rumknutscht, während dieser still leidet. Schon nicht gut, da bin ich mit Sandro. Aber hey, Tim ist 43. Dali 27. Beide erwachsen. Und doch an anderen Punkten.
Ich bin für eine faire Chance für Dali.
Dass ich gekocht habe, findet sie sehr typisch für «Leute in eurem Alter». Am Herd stehe immer die Frau. Das fände sie scheisse. Die Rollenverteilung, wir sollen ehrlich sein, sei vor 200 Jahren stehen geblieben. Sie kenne keine Väter, die Zuhause bleiben, keine Männer, die bei der Karriere zurückstecken und schon gar keine 10 Frauen an der Spitze grosser Unternehmen.
Grosse Unternehmen findet Dali sowieso «grusig». Alles korrupt. Alles «alte weisse Männer». Die Politik? Alles Clowns. Ausser Tamara Funiciello und ein paar andere. Leute, die dann auch noch in einem Pensum von 100 Prozent in diesem abgefuckten System arbeiten, seien alle Opfer.
Tim und Sandro arbeiten 100 Prozent. Ich manchmal mehr, manchmal weniger.
Dali arbeitet mal hier, mal dort. Im Sommer hat sie sich schon mal als Bademeisterin probiert. Fand sie scheisse. Sie hat eine Ausbildung zur Yoga-Lehrerin angefangen. Wurde ihr «by far too much». Jetzt gerade jobbt sie in einem Café, das von einem lesbischen Paar betrieben wird. Sie arbeitet da aber nur als Springerin.
Sonst ist Dali busy mit die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und uns zu besseren Menschen. Wir erzählen eine Geschichte von Ben. Es geht um seine Berufsgattung. Ich sage «Lehrer», sie korrigiert mich. Es heisse «Lehrer:innen». Macht sie nonstop. Ich mache nonstop nicht mit.
Tim derweil hat's schon intus. Er nennt mich jetzt Cis-Frau, spricht von zum Beispiel Politiker:innen und ergänzt explizit, dass er mit dem Ausdruck alle Geschlechteridentitäten miteinbezieht.
Dali strahlt.
Ich lache.
Sandro sitzt auf dem Holzstuhl. Seine Füsse wippen, als würde er am Restless Legs Syndrom leiden. Was er nicht tut. Sandro ist einfach genervt. Sandro will seinen Tim zurück.
Dass wir «in unserem Alter» noch keine Kartoffeln haben, findet sie hingegen cool. «Wer heute noch Kinder in die Welt setzt, ist einfach nur ein Arschloch.»
Ach, Dali.
Das Klima, der Krieg, die Politik. Wer den Planeten mit Füssen tritt, soll wenigstens abtreten, ohne sich vermehrt zu haben. Dali ist in Fahrt. Auf ihrem Hals bilden sich viele rote Punkte. Sie raucht eine selber gedrehte Zigarette nach der anderen.
Tim gibt alles. Er will ihre Hand halten, will seine Hand auf ihr Knie legen, ihren Nacken streicheln. Dali will das alles nicht. Während sie uns Dinge erklärt, die wir bestens kennen und verstehen - unter anderem warum es so wichtig ist, die LGBTQ+-Szene aktiv zu unterstützen - fällt Tim immer mehr in sich zusammen.
Dann wechselt Dali out of the blue das Thema. Sie will über Sex reden. Darüber, dass «Leute in eurem Alter» keine Ahnung haben. Darüber, dass «Leute in eurem Alter in der Illusion leben, dass Monogamie funktioniert».
Sie fragt mich, ob meine Achseln rasiert sind. Sie sind, sage ich. Warum, fragt sie. Weil es mir besser gefällt und ich mich wohler fühle. Findet Dali «voll daneben». Dann redet Dali über ihren Fetisch, von dem wir heimlich natürlich schon seit Tag 1 wissen: Dali mag Achselhöhlenpenetration. Besonders wegen der Achselhaare gebe ihr das so viel. Ich nicke und höre interessiert zu.
Sandro und Tim hauen schnell ab. Offiziell Papes holen. Inoffiziell will Sandro Tim auf der Strasse eventuell rasch etwas durchschütteln.
Dali und ich sitzen am Küchentisch. Sie will jetzt einen Tee. Noch mehr will sie mir bewusst machen, warum es so wichtig ist, dass sich «Frauen in deinem Alter» gegen das System wehren. Sex zelebrieren. Sich von männlichen Chefs nichts sagen lassen. Und den Rasierer aus dem Badezimmerschränkli eliminieren.
Ich bin erleichtert, als ich Sandro und Tim höre. Sie möchte jetzt gehen, sagt Dali. Tim will gerade seine Jacke anziehen. Er soll bleiben, sagt Dali. Sie wolle alleine in den Ausgang. Dann ist Dali weg. Und Tim ein Häufchen Elend.
Ein Fall für ein Gespräch unter besten Freunden. Ich verabschiede mich auch.
Drei Stunden später schickt mir Sandro ein Selfie. Tim und er liegen lachend auf seiner Couch. Auf dem Tisch stehen leere Bierdosen, leere Minipic-Packungen, ein voller Aschenbecher, eine aufgebrauchte Kleenexpackung (waren nicht wir) und eine angeschnittene Riesen-Pizza Prosciutto e Funghi. Dazu schreibt er «Die Minipics hat er verputzt, die Schinkenpizza er bestellt. Gut möglich, dass wir ihn bald wieder haben.»
Ich bin erleichtert.
Ohne Scheiss, nichts gegen all die Themen, für die sich Dali stark macht. Au Contraire. Ich bin mit ihr. Es ist ihre aktiv aggressive Art und Weise. Ist nicht meins, ist nicht Sandros und ist schon gar nicht Tims. Genau so wenig wie Achselhöhlensex Tims ist. Oder offene Beziehungen.
Man darf uns Boomer schimpfen.
Pardon, Boomer:innen.
Also eigentlich genau was Sie den "alten weissen Männern" vorwirft.
Ich würde nie so wie Dali leben wollen, bin aber froh, dass Sie es tun kann. Das gehört zu einer toleranten pluralistischen Welt dazu. Jetzt wäre es noch schön wenn Dali auch die Lebensentwürfe anderer Menschen tolerieren würde.
Dies habe ich in der linksalternativen Szene schon häufig beobachtet: es wird hemmungslos geschlotet! Viele anderen Lebensbereiche (Ernährung, Beruf, Wohnform, Reisen, usw.) werden übersensibel behandelt, aber beim Tabak spielts irgendwie keine Rolle. Obwohl es sich dabei nachweislich um ein sehr umweltschädliche Pflanze handelt.
Warum? Vielleicht finde ich hier - unter den Rät:innen der Weisen 😀 - ein paar plausible Antworten darauf.