Paris. Ein früher Junitag. Die Metrostationen sind vollgepflastert mit Filmplakaten. Mit genau zwei Filmplakaten: «X-Men: Dark Phoenix» und «Parasite». Phoenix gegen Parasit also. Heldisch erhabener Vogel gegen etwas Lästiges, das sich einer anderen Existenz ungefragt aufdrängt und sich an dieser nährt.
«Si tu me spoiles la fin, je te tue!», wenn du mir das Ende verrätst, töte ich dich, steht auf den «Parasite»-Plakaten, wer dran vorbei geht, lächelt. Regisseur Bong Jon-Hoo hat die Weltpresse darum gebeten, nicht allzu viel zu verraten. Daran hält man sich nun vergnügt.
Seit einer Woche ist «Parasite» in seiner Heimat Südkorea im Kino und die Nummer eins beim Publikum. Beinah siebzig Prozent der Kinogänger schauen sich dort gerade keinen anderen Film an. Eine irre Zahl. Und in Paris? Läuft der Film, der in Cannes am 25. Mai die Goldene Palme gewonnen hat, gerade an. Und nicht bloss in einem oder zwei Kinos, nein, in mindestens vierzehn.
Der Himmel über Paris hat beschlossen, «Parasite» mit Starkregen zu beglücken und die Leute ins Kino zu treiben. Uns treibt es ins «Louxor», einen Kinopalast im 10. Arrondissement, einen Ort, in dem die Welt in all ihren Schattierungen schon seit gut hundert Jahren zuhause ist. Entworfen hat es ein junger algerischer Architekt, der Stil ist irgendwie neo-altägyptisch, zuerst war es einfach ein Kino, dann die Pariser Heimat von Bollywood, eine Filiale des Billigkaufhauses Tati, ein Schwulenclub und seit wenigen Jahren wieder ein denkmalgeschütztes Kino.
Der Regen ist rabiat, alle Schirme in den Shops am Boulevard de la Chapelle sind ausverkauft, vor dem Kino warten schwer begossen aber unverdrossen gut hundert Leute. Für die 16-Uhr-Vorstellung. Wie lange wird es in der Schweiz wohl brauchen, bis die ersten hundert «Parasite» gesehen haben werden? Ein Wochenende?
Gut, Bong Jon-Hoo ist natürlich alles andere als unbekannt, der Regisseur von «The Host», «Snowpiercer», «Okja», der Mann, der die Erzählgenres verquickt, wie es ihm gerade gefällt, auch «Parasite» ist wieder Drama, Komödie, Thriller in einem. Und wie «The Host» und «Snowpiercer» eine irre Studie über Arm und Reich. In «The Host» freundeten sich die Armen von Seoul mit einem wassergeborenen Monster an. In «Snowpiercer» versuchten die Armen aus den Viehwagen ganz hinten in einem Zug, der durch die Klimapokalypse fräste, nach vorn in die Luxusgemächer der Superklasse zu gelangen, wo es Platz, Sauberkeit und gutes Essen gab.
Und jetzt? Haben wir die Familien von Mr. Park und Ki-taek (Bong Joon-Hos männliche Muse Song Kang-ho). Mr. Park lebt in einer Villa, hat eine ätherische Frau und zwei gewiss überbegabte Kinder. Ki-taek lebt in einer winzigen Souterrain-Wohnung, hat eine robuste Frau und zwei streetsmarte Kinder, die perfekt lügen und Dinge fälschen können, alle sind arbeitslos, und die wichtigste Frage ist immer: Wo in dem Loch, in dem wir leben, finden wir irgendein WLAN, in dem wir uns einnisten können.
Ein märchenhafter Zufall macht Ki-taeks Sohn zum Hauslehrer von Mr. Parks Tochter. Und wenig später seine Schwester zur Kunstpädagogin des Söhnchens. Und Ki-taek selbst zum Driver und seine Frau zur Haushälterin. Die Home-Invasion ist komplett. Die alte Haushälterin wurde mittels Intrige aus dem Haus spediert. Die Verwandtschaftverhältnisse der neuen Angestellten werden nicht offen gelegt. Einzig der angeblich kunstbegabte Park-Erbe fragt sich: Wieso riechen die alle gleich?
Immer kommt was hoch. Und es hat nichts Gutes im Sinn. Das heisst, es hat das Überleben im Sinn. Und das geht nur, wenn da schon was anderes lebt, das eine Existenz- oder Nahrungsgrundlage bildet. So wie es einen Mr. Park ganz oben nur geben kann, weil unten ein Ki-taek ist. Ein Gleichgewicht der Ungleichheit, das in «Parasite» zunehmend aus den Fugen gerät. Und immer blutiger wird.
Der «Guardian» schrieb, «Parasite» sei ein wenig wie «Downton Abbey», die britische Serie über Herrschende und Dienende in einem illustren Landhaus. Ist es natürlich nicht. «Parasite» ist weit raffinierter, frecher, böser, listig und lustig. Ist blendende Unterhaltung mit einem ernsten Kern. Ist die Revolte gegen jenes Klassensystems, wie es in «Downton Abbey» mit unbeirrbarem Standesbewusstsein und Schicksalsergebenheit konserviert wird.
Der Regen über dem Kino Louxor wird am Tag der Pariser Premiere übrigens nur noch vom Regen über Korea auf der Leinwand übertroffen. Schliesslich liebt Bong Jon-Hoo das Wasser. Als Fluss in «The Host». Als Schnee in «Snowpiercer». Und jetzt als Sintflut.
Und die Leute wundern sich, warum ich nur noch 1-2 mal im Jahr ins Kino gehe. 🖕