Die meisten Menschen erleben ihren ersten Kuss laut Umfragen mit 14 Jahren. Das «erste Mal» folgt etwa drei Jahre später. Wenn man nach der Statistik geht, ist Jana Crämer also eine echte Spätzünderin. Vielleicht auch eine Nie-Zünderin. Denn: Jana ist 40 Jahre alt und noch ungeküsst.
Für viele Menschen ist das unvorstellbar. Dabei geht es doch vor allem um eins, findet sie: Dass man mit sich selbst glücklich ist. Das ist schwer genug, wenn man nicht dem Schönheitsideal entspricht, Mobbing erlebt oder aus einem zerrüttetem Elternhaus kommt. Alles Erfahrungen, über die Jana in ihrem Buch »Jana, 39, ungeküsst" (Knaur Verlag) spricht. Ein Mutmacher für alle, die glauben, nicht liebenswert genug zu sein, unvollständig oder fehl am Platz.
«Ich habe so viel Mist erlebt, aber heute könnte ich nicht glücklicher sein», sagt die Autorin aus Nordrhein-Westfalen. «Ich möchte anderen ein bisschen Hoffnung geben.»
Single zu sein bedeutet nicht, alleine zu sein, sagt sie. Und manchmal ist das wichtigste Date im Leben man selbst. Gegenüber watson erklärt Jana, warum sie bislang alle Liebes-Interessenten abwies und warum das nicht heisst, dass sie ein Leben ohne Lust führt.
«Ich bin inzwischen 40 Jahre alt und ungeküsst. Ich hatte auch noch nie Sex. Wenn ich das erzähle, fragen alle: ‹Warum?› Und auch: ‹Warum bist du trotzdem glücklich?›
Denn ja, ich bin glücklich. Sogar sehr. Viele verwechseln Alleinsein mit Einsamkeit, aber einsam bin ich nicht. Ich bin viel unter Leuten, sowohl beruflich als auch privat. Es ist nicht so, dass ich extrem schüchtern bin.
Insbesondere Frauen wird gleich eine Mängelliste unterstellt, die ihr Single-Dasein erklären soll: Zu laut, zu leise, zu schlau … Die Leute sind richtig enttäuscht, wenn nichts davon zutrifft. Du darfst in unserer Gesellschaft eher in einer toxischen Beziehung unglücklich sein als ohne Beziehung glücklich. Das ist völlig irre.
Ich kenne das Mitleid über meinen Single-Status aus dem Umfeld gut. Wenn der Opa an Weihnachten den Arm um einen legt und sagt: ‹Ach Mädchen, du findest auch noch deinen Deckel, jemanden, der dich versorgt.› Da will man schreien: ‹Soll ich dir sagen, wie mein Kontostand aussieht?›
Lange habe ich das als Angriff interpretiert. Heute glaube ich: Manche dieser Aussagen der älteren Generation fallen auch aus ehrlicher Fürsorge, die aber gar nicht nötig ist. Auch mein bester Freund würde sich freuen, wenn ich mich mal verlieben würde, aber mir fehlt gar nichts. Im Gegenteil: Ich glaube, ich kann nicht glücklicher werden als ich mich derzeit fühle, auch nicht durch eine Liebesbeziehung.
Das war nicht immer so. Ich hatte eine Essstörung, wog bis zu 180 Kilogramm. Das Verhältnis zu meinem Körper war katastrophal und ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand mich attraktiv finden könnte. Mithilfe einiger Therapiestunden konnte ich die Ursachen aufarbeiten. Heute vergleiche ich mich nicht mehr. Ich zähle auch keine Kalorien mehr und erst nachdem ich diese Kontrolle, diesen Zwang aufgegeben hatte, konnte ich mein neues Gewicht problemlos halten.
Natürlich hängt die Haut an vielen Stellen jetzt, aber ich bin über jeden Zentimeter an mir dankbar. Mein Körper ist weit weg davon, was andere als Ideal empfinden, aber für mich ist er perfekt, weil er das alles mit mir durchgestanden hat. Ja, ich habe eine Reihe von Krankheiten. Ödeme sind scheisse. Und Multiple Sklerose ist scheisse. Aber mein Körper hat Krankheiten. Er ist keine.
Meine Geschichte teile ich inzwischen gerne. Ich versuche der Mensch zu sein, den ich früher gebraucht hätte. Ich habe mich für so viele Dinge geschämt. Für mein Singledasein, für meinen alkoholkranken Vater, für meinen Körper. Für alles. Ich habe mich wie ein Alien gefühlt. Und es wäre schön gewesen zu wissen: Hey, du bist nicht alleine damit. Deshalb zeige ich mich so brutal ehrlich. Ich möchte, dass sich niemand da draussen so alleine fühlt, wie ich damals.
Damals, also schon in der Jugend, war Verknallt-Sein natürlich ein Thema. Ich weiss daher, wie es sich anfühlt, jemanden zu begehren. Aber nicht, wie es sich anfühlt, wenn man zulässt, dass diese Gefühle erwidert werden.
Sobald jemand Interesse an mir zeigte, mich zum Beispiel nach einem Date fragte, war es von jetzt auf gleich bei mir vorbei. Ich dachte: ‹Ernsthaft? Hat der einen Fetisch?› Jemand, der mich gut fand, musste abartig sein. Denn ich fand meinen Körper eklig. Und so ergab sich weder ein Kuss noch irgendetwas anderes.
Dadurch, dass ich meinen Körper so gehasst habe, ihn am liebsten von mir abspalten wollte, mache ich jetzt viele Erfahrungen zum ersten Mal, zum Beispiel wie es ist, wenn man den Körper vollends spürt. Und – wow! – es ist so schön.
Nur weil man noch nie Sex hatte, heisst das nicht, dass man keine Sinnlichkeit im Leben hat. Ich verwöhne meinen Körper. Jeden Morgen reisse ich das Fenster auf und geniesse die frische Luft, nehme einen Atemzug so richtig tief in den Bauch. Grossartig. Ich teste mich auch durch Teesorten, schmecke mich richtig in die verschiedenen Kräuter hinein.
Ich mag auch Orgasmen, aber das ist weniger Lust auf Sex, sondern mehr eine zielgerichtete Entspannungsmethode. Wenn ich weiss, dass ich schnell schlafen sollte, weil ich morgens früh aufstehen muss, dann ist ein Orgasmus am Abend nützlich.
Sehnsucht nach Sex mit einem Partner, nach Romantik, die habe ich nicht. Ich bin auch nicht aktiv auf der Suche nach einem Mann, würde mich nie bei Tinder anmelden. Aber ich bin inzwischen – und das ist neu – offen dafür, jemanden kennenzulernen, wenn es zufällig passiert.
Noch bis vor kurzem habe ich das anders gesehen. Da hat sich alles in mir bei der Vorstellung gesträubt, eine Liebesbeziehung einzugehen. Früher habe ich mich sehr über meine Essstörung definiert, dann so stark über mein Single-Sein, dass ich langsam glaube, ich habe mich da vielleicht ein bisschen verrannt.
Nicht falsch verstehen: Ich bin immer noch sicher, dass ich ein schönes Leben habe, auch wenn ich für immer ungeküsst bleibe. Eine Partnerschaft macht das Leben nicht automatisch besser oder schlechter. Und man sollte sich nicht zu einer Beziehung oder Sex drängen lassen, davon bin ich absolut überzeugt.
Ich habe so lange dafür gekämpft, endlich mit mir Frieden zu schliessen, dass ich dieses 'Ich', das ich – endlich! – so lieb gewonnen habe, für nichts verbiegen lasse. Ich würde niemals nur mit einem Mann anbändeln, damit ich mal Geschlechtsverkehr hatte. Es braucht mich auch niemand zu verkuppeln. Ehrlich, es geht mir gut!
Aber wenn mir morgen auf der Strasse jemand begegnen würde, den ich anziehend fände, würde ich nicht mehr aus Prinzip ‹Nein› sagen. Ich denke, ich würde mich auf das Abenteuer einlassen. Denn ein bisschen neugierig bin ich schon, ob es sich echt so krass anfühlt, wie alle sagen, wenn man so richtig verliebt ist …»
Ich glaube, das sagt sehr viel über die Gesellschaft aus!
👍