Die Mädchen tanzen ausgelassen um das lodernde Feuer, fallen sich gegenseitig in die Arme und kreischen betrunkene Liebesschwüre. Ich bin 16 Jahre alt und in einem Klassenlager. «Ihr wisst schon, dass wir uns morgen alle nicht mehr so liebhaben werden», werfe ich trotz erhöhtem Alkoholpegel nüchtern in die Runde.
Ich kann mich nicht daran erinnern, das je gesagt zu haben, eine gute Jugendfreundin erinnert mich aber immer wieder gerne daran.
Ich war noch nie ein Gruppenmensch. Nur hatte ich das vergessen, als ich mich für den Rauchstopp-Kurs der Krebsliga Zürich anmeldete. Zu schnell aufgebaute Nähe ist mir suspekt, auch wenn ich mich meinen Mitmenschen meist schnell öffne.
So sitze ich Mitte Januar also aufgeregt in einem Kursraum mit acht Männern und Frauen um die 50 Jahre, die sich auch zum Ziel gesetzt haben, ihrer Nikotinsucht ein für alle Mal den Rücken zu kehren.
Gespannt blicke ich in die Runde. Auf den Gesichtern ein Wechselbad der Gefühle: Angst, Unsicherheit, Zweifel, da und dort aber auch ein scheues Lächeln, ein unterdrücktes Grinsen.
Während den nächsten sechs Wochen werden wir einmal wöchentlich eineinhalb Stunden zusammen unsere Sucht reflektieren, diskutieren, Tipps austauschen und uns gegenseitig motivieren. Die Kursleiterin – selbst ehemalige Raucherin – fordert uns zu einer Vorstellungsrunde auf. Was erwarten wir vom Kurs und von der Gruppe? Was sind unsere Befürchtungen? Wir sollen uns ruhig dafür Zeit lassen, ermutigt sie uns einfühlsam.
Da ist die Frau, die seit über 40 Jahren raucht. Aufgehört habe sie bisher nur ein Mal – mithilfe eines Handauflegers. Von einem Schlag auf den anderen reduzierte sie von drei Pack Zigaretten auf null – und das Rauchen habe ihr nicht im Geringsten gefehlt! So leicht solle das am liebsten wieder gehen, sagt sie. Sie wäre erneut zum Handaufleger gegangen, wäre er nicht in der Zwischenzeit verstorben. Meine Sitznachbarin und ich blicken uns verstohlen an und sagen unisono: «Er hat wohl zu viel geraucht.» Wir lachen laut heraus und schauen uns sogleich verlegen um. Darf man über so etwas Witze machen? Man darf. Dem Tod und der Sucht, die umso schneller zu Ersterem führen kann, mit Humor begegnen, das tun hier viele. Wie sonst, kann man sich jeden Tag belügen, während man gierig an der Kippe zieht?
Nun bin ich an der Reihe:
Gelächter.
Ich bin nervös, was sonst bei solchen Runden kaum der Fall ist. Aber hier geht es ausserordentlich schnell ans Eingemachte. Das Rauchen ist mit so vielen Emotionen gekoppelt, dass man nicht nur seine Sucht, sondern auch sich und seine Muster eingehend reflektieren muss. Die Nikotinsucht ist aber, wie man weiss, nicht nur psychisch, sondern auch körperlich, das macht das Aufhören so schwierig. «Rauchen ist keine Charakterschwäche», erinnert uns die Kursleiterin des Öfteren und es tut so gut, dies einmal von einer Fachperson zu hören.
Wir erhalten viele Inputs, um unser Rauchverhalten zu reflektieren. So füllen wir zum Beispiel ein Zigarettenprotokoll aus, in dem wir festhalten, wann und wo wir rauchen, wie wir uns vor der Zigarette gefühlt haben, wie stark das Verlangen war und nicht zuletzt, was wir stattdessen hätten tun können. Dies öffnet mir die Augen, dass mein grösstes Problem mein Smartphone ist. Wenn ich telefoniere oder auf Social Media rumscrolle, vergesse ich mich und rauche oft eine nach der anderen. Zudem erhalten wir viele Ideen, was wir tun könnten, statt zu rauchen – zum Beispiel auf den Balkon stehen und Seifenblasen pusten. Eine besonders schöne Idee, wie ich finde und kaufe mir sogleich ein Fläschchen.
Schon am zweiten Kursabend sollen wir unser Rauchstopp-Datum festlegen. Beziehungsweise das Datum unserer «Rauchfreiheit». Auch in der Sprache soll sich ausdrücken, dass wir nicht auf etwas verzichten müssen, sondern uns von einem Laster befreien. «Das geht mir jetzt alles ein wenig schnell», meldet sich ein Teilnehmer zu Wort und er spricht mir aus der Seele. Dennoch setzen wir alle unser Datum und gehen gemeinsam Strategien durch, was wir tun können, wenn es so richtig «riisst»; die Momente also, in denen unser Suchthirn besonders laut nach Nikotin schreit.
Am dritten Kursabend haben tatsächlich alle bis auf zwei von uns aufgehört. Eine davon bin ich. Ich fühle mich mies, dass ich es nicht geschafft habe. Einen halbpatzigen Versuch hatte ich gestartet, scheiterte aber bereits nach sechs Stunden, da ich meine E-Zigaretten nicht wie geplant am Abend zuvor bei einem Freund deponiert hatte. Da halfen auch die Seifenblasen nichts. «Jede und jeder soll im eigenen Tempo aufhören», beschwichtigt die Kursleiterin. Dennoch habe ich das Gefühl, der Zug sei nun abgefahren.
Den vierten und fünften Kursabend lasse ich sausen. An einem Abend fühle ich mich nicht wohl und am anderen hatte ich zu viel bei der Arbeit zu tun. Faule Ausreden? Vermutlich. Den sechsten und letzten Abend will ich dennoch nicht verpassen. Alles in allem hat mir der Kurs nämlich viele neue Denkanstösse gegeben und auch die Leute in der Gruppe wollte ich nochmals sehen.
Noch immer sind alle bis auf zwei rauchfrei. Einer davon wird nach dem Kurs aufhören – die andere bin ich. Ich rauche noch immer.
Dennoch war der Kurs nicht umsonst. Was ich vor allem gelernt habe: Jede und jeder tickt komplett anders und muss die Methoden finden, die für sie oder ihn am besten passen. Es gibt kein Patentrezept, um rauchfrei zu werden und es auch zu bleiben. Manchen hilft zum Aufhören ein Belohnungssystem, anderen macht das eher Druck. Manche besuchen einen Gruppenkurs, bei anderen bringt auch das nichts ...
Den nächsten Versuch werde ich mit Nikotinersatzprodukten starten, alle Utensilien vorher entsorgen und am besten mit einem Ortswechsel, arbeitsfreier Zeit und viel Ablenkung kombinieren. Nicht zuletzt werden mich die Worte einer Teilnehmerin auf meinem Weg zur Rauchfreiheit begleiten:
Es geht, wenn man will.
Und man muss gewillt sein, danach nie, unter gar keinen Umständen mehr zu rauchen.
Am besten lässt man all die halbherzigen Versuche bleiben, setzt sich einen grosszügigen Zeithorizont, und wartet danach den richtigen Zeitpunkt ab.
Ich rauchte drei Pakete pro Tag. Und ich wartete auf meinen Tag. Er kam, ungefähr vier Jahre später. Plötzlich fühlte ich, jetzt bin ich stark genug. Und so war es!
Das ist viele Jahre her.