«Das mach’ ich für dich, Grossvater», sagt die 14-Jährige und blickt nach oben, in Richtung Himmel, dorthin, wo ihr Grossvater schon vor ihrer Geburt hin verschwand. Er starb an Aids. Die 14-Jährige ist Schauspielerin, heisst Jenna Ortega und engagiert sich im Kampf gegen Aids. Und für bessere Chancen von lateinamerikanischen Schauspielerinnen und Schauspielern. Ihr Vater ist mexikanischer, ihre Mutter mexikanisch-puerto-ricanischer Abstammung.
Jenna will schon mit 14 interessantere Rollen. Auch wenn sie von klein auf viel zu tun hat, ist die Bandbreite der Angebote für sie beschränkt. Sie ist das süsse Latina-Mädchen in der McDonald's-Werbung, wo sie zu ihrem Leidwesen immer Apfeltaschen bewerben muss, obwohl sie diese hasst. Nach dem Dreh vertilgt sie immer eine Portion Chicken Nuggets, um die blöden Äpfel zu bewältigen. «Ich hatte keine Beziehungen zu Hollywood, deshalb hiess es, ich könne nur Werbung machen», sagt sie.
Sie ist das süsse Latina-Mädchen von Disney. «Wenn meine Familie eine Woche wäre, dann wäre ich Mittwoch», sagt sie im Trailer der Sitcom «Stuck in the Middle». Wednesday also. Doch Jenna ist ungeduldig. Und in ihren kämpferischen Argumentationen wahnsinnig erwachsen.
«Schon als ich acht war, nannten mich die Leute eine alte Frau», sagt sie heute, mit knapp 20. Als Kind im TV-Business war sie von lauter Erwachsenen umgeben, mit denen sie auf eine professionelle Art umgehen musste, «von der andere Kinder überfordert wären». Und vielleicht ist ja genau das die Paradoxie der Kinderstars: Sie können kein Kind unter vielen sein, doch sie spielen ein Kind für viele. Von einer normalen Kindheit sind sie ausgeschlossen.
So wie auch die Kinder mit sonderbaren Fähigkeiten, die «Outcasts», im Netflix-Überhit «Wednesday» von Tim Burton von der Normalität ausgeschlossen sind. Zusammengepfercht in einem Internat für paranormal Begabte. Und mitten unter ihnen Wednesday Addams. Das altkluge, darke, zynische, sadistische Latina-Mädchen. Die Monstertochter von Gomez und Morticia, der alles Kindliche fremd ist. Die weder Farben noch Gefühle mag. «Wednesday» ist Jennas Durchbruch, sie ist jetzt eine Netflix-Ikone. Nur «Squid Game» und «Stranger Things» liegen in den Tagen vor Weihnachten auf Netflix noch vor «Wednesday», und beide laufen schon viel, viel länger.
Das Düstere ist eins von Jennas Lieblingselementen. Es begann früh, als ihre Mutter sie aus dem Coachella Valley nach Los Angeles zum Vorsprechen fuhr, drei Stunden hin, drei zurück, vier, fünf Male die Woche, dabei hatte die Mutter noch fünf weitere Kinder und einen Fulltime-Job als Krankenschwester auf einer Notfallstation. Während der Fahrt hörten die beiden Podcasts über Mordfälle. Die Schreie der Opfer und die Schilderungen der Verbrechen waren Jennas Soundtrack auf dem Weg zum Casting.
Seit ein paar Jahren spielt sie in Horrorfilmen mit. Obwohl sie allergisch auf Kunstblut ist. Gerade hat sie den neuen «Scream» abgedreht, sie liebt die Arbeit am Horror, es sei «so therapeutisch» sagt sie in der «Tonight Show», ein endloser Spass, niemand könne sich bei der Arbeit ernst nehmen, und die ganzen Tüftler, die sich die entsetzlichen Effekte ausdenken, seien ein Trupp liebenswürdiger Nerds. Auch Tim Burton zählt sie zu diesen, sie beschreibt ihn als «tiny creature» (bei Jimmy Kimmel), als winziges Wesen, was natürlich lustig ist, weil sie mit ihren 1,55 Metern auch keine Riesin ist.
Sie ist damit auf den Zentimeter gleich gross wie ihre Vorgängerin als Wednesday, Christina Ricci. Und hier setzt nun der Perfektionismus von Jenna Ortega ein. Sie hatte sich noch ganz unbeschwert für «Wednesday» casten lassen, hatte sich gesagt, ach, das ist am Ende auch bloss TV, alles wird viel zu schnell gedreht werden, niemand wird sich grosse Mühe geben, als sie sich plötzlich Tim Burton gegenübersah. Und Christina Ricci. Zwei Menschen, deren Arbeiten sie verehrte und die sie unter keinen Umständen enttäuschen wollte.
Ihre Wednesday musste nun vieles werden: Eine Liebeserklärung an Christina Ricci, eine Neuinterpretation, ein Meisterstück an komischem Timing und präzise gesetztem mimischem Minimalismus. Und natürlich musste sie her dark materials zusammenkratzen. Fror jedes Lachen ein und machte ihre Augen zu magischen schwarzen Magneten. Sie lernte Cellospielen und Fechten, und als es zur berühmten Tanzszene kam (während der sie unter einer bereits getesteten, aber noch nicht bestätigten Covid-Infektion litt), da sagte sie grossspurig: «Die Choreografie mache ich selbst.»
Tim Burton liess sie damit alleine. Sie schlief zwei Nächte lang nicht mehr und schaute sich Dutzende von Videos an: Goth-Kids in den Clubs der 80er-Jahre, Siouxsie and the Banshees, Nina Hagen und Lisa Loring, die in den 60er-Jahren die erste Wednesday Addams spielte. Dann ging sie zum Dreh und tanzte los. Ohne genaue Idee, aber total inspiriert. Das Resultat ist ein kleines Juwel, Jenna erinnert in ihrer coolen Verdrehtheit an die tanzende Uma Thurman in Pulp Fiction. Lady Gaga imitierte sie schon auf TikTok.
«Wednesday» ist nach «The Umbrella Academy» und «Chiling Adventures of Sabrina» eine weitere Harry-Potter-nahe Serie über ein Internat der übernatürlich begabten Kinder auf Netflix. Zum Glück durfte Tim Burton noch seine skurrile Kantigkeit und morbide Totengräber-Ästhetik einfliessen lassen. Und genüssliche Spielereien wie die laszive Morticia von Catherine Zeta-Jones sind eine Freude.
Doch vor allem ist «Wednesday» das Werk und der Siegeszug von Jenna Ortega. Einer Frau, die ohne Beziehungen in Hollywood angefangen hat und heute erst recht keine mehr braucht. Hollywood muss sich jetzt um beste Beziehungen zu Jenna Ortega bemühen.