Das Zweitschlimmste ist die Volljährigkeit. Denn dann müssen die jungen Frauen ihre Ersatzfamilie verlassen. Das Heim, wo sie leben, Gemüse anbauen und Hühner halten. Ihre Gemeinschaft nennen sie «La Mif». Ein paar Buchstaben, aus denen sich auch «Famil» ergibt. Familie.
Das Schlimmste sind die Gründe, die sie in die Schutzzone des Heims getrieben haben. Audrey zum Beispiel verlor beide Eltern bei einem Verkehrsunfall. Novinhas Mutter interessiert sich einfach nicht für ihre Tochter. Justines kleine Schwester ertrank unter ihrer Obhut in der Badewanne. Alison wurde von ihrem Vater missbraucht. Ebenso Précieuse. Suizidgedanken und -versuche sind an der Tagesordnung.
Trotzdem ist «La Mif» von Regisseur Fred Baillif und Drehbuchautorin Stéphane Mitchell («Quartier des banques») keine Teenie-Depressions-Studie im Stil von «Euphoria» oder «Thirteen Reasons Why». «La Mif» ist ein Film über die Kraft und den Kampf einer Gruppe von Heim-Mädchen, die dem Leben ihren Platz abtrotzen und einander dabei bedingungslos helfen.
Der 48-jährige Genfer Baillif war selbst Sozialarbeiter, betreute Jugendliche in Gefängnissen und Heimen, bevor er als Autodidakt zum Film stiess. Jetzt hat er in einem Genfer Heim gemeinsam mit Heimkindern, Erzieherinnen und Erziehern innerhalb von nur zwölf Tagen einen Film realisiert, der international auf Begeisterung stösst und Preis um Preis gewinnt. In Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, der Türkei und der Schweiz.
Dabei ist «La Mif» kein Dokumentarfilm. Gemeinsam mit den Mädchen und Erwachsenen haben Baillif und Mitchell ein fiktionales Drehbuch entwickelt, beim Dreh selbst wurden viele Improvisationen zugelassen. Das kommt den Laien sehr entgegen, keine Sekunde lang vermisst man hier Professionalität, das ist energetisch und hochexplosiv, ein Tag im Heim besteht aus tausend Konfliktzonen, doch wenn sie überwunden sind, ist viel Ruhe, Wärme und Heiterkeit möglich.
Zum reinen Mädchen-Heim wird die Institution im Film übrigens erst, nachdem die 17-jährige Audrey beim Sex mit dem 13-jährigen Charles erwischt wurde. Es ist eine Auflage der Behörden. Denn so sehr den jungen Menschen Schutz vor der Welt gewährt wird, so sehr müssen sie oft auch vor sich selbst beschützt werden. Konfrontationen mit der Polizei gehören zum Heim-Alltag. Das Regelwerk ist sehr exakt. Sex mit einem Minderjährigen ist ein Vergehen. Auch wenn allen klar ist, dass im emotionalen und hormonellen Dampfkochtopf der Pubertät auch die Sexualität ihren Platz haben muss. Nur wie?
Und welche Superkräfte braucht man eigentlich, um den Alltag mit jungen Menschen, die erst einmal von Misstrauen, Aggression, Angst und Scham befreit werden müssen, zu bewältigen? Natürlich viele. Und natürlich sind auch die Betreuenden nicht fehlerfrei. Weder als Individuen noch als Gruppe. Und natürlich werden sie von den Mädchen, die selbst durch allerlei Missbrauchs- und Manipulationsszenarien auf das Ausnutzen von Schwächen getrimmt wurden, ihrerseits mit kindlicher Brutalität vorgeführt.
Doch das Schöne an «La Mif» ist, dass hier so viel Leben mitgeschrieben hat. Und dass es deswegen tausend Brüche gibt. Im Heiteren wie im Traurigen. Erfahrungen sind dazu da, um geteilt, Wunden, um geheilt zu werden. Zusammen geht das am besten. Und wo einen ähnliche Traumata verbinden, fällt viel Trennendes weg: Religion und Hautfarbe etwa sind im Alltag der Mädchen völlig egal.
Als zum Schluss die jüngste Heimbewohnerin empfangen wird – sie ist noch fast ein Baby und muss dringend vor ihren Eltern in Sicherheit gebracht werden – sitzen Audrey, Novinha und die anderen wie weise alte Frauen schweigend vor dem Haus. Sie brauchen keine Fantasie, um sich auszumalen, was mit der kleinen Zoé geschehen sein könnte. Sie wissen schon viel zu viel über das schattige Abseits eines jungen Lebens.
«La Mif» läuft ab dem 17. März im Kino und ist sechs Mal für den Schweizer Filmpreis vom 25. März nominiert.