Als Alexej Nawalny am 20. August 2020 im sibirischen Tomsk eine frische blaue Unterhose anzieht, ahnt er nicht, dass sie mit einer extra hohen Dosis Nervengift versehen ist. Schon wenige Stunden nach seinem Tod würde es keinerlei Spuren mehr hinterlassen.
Er besteigt ein Flugzeug nach Moskau, das Gift beginnt zu wirken, Mitreisende zeichnen seine Schmerzensschreie auf, nach einer Notlandung in Omsk erhält er im Spital ein Entgiftungsmittel, die russischen News-Agenturen vermelden, sein Zustand beruhe auf einem zu tiefen Blutzuckerspiegel oder dem Konsum von «amerikanischen» Antidepressiva und anderen Drogen.
Angela Merkel lässt den russischen Oppositionsführer nach Berlin ausfliegen, Untersuchungen in der Charité ergeben, dass er tatsächlich mit einem Gift aus der Nowitschok-Gruppe attackiert wurde. Nowitschok ist Putins Signatur. Hergestellt werden die Gifte in einer einzigen Fabrik in Moskau namens Signal Institut. Zwölf Wissenschaftler, die sich mit chemischen Waffen auskennen, sind dafür verantwortlich, getarnt ist die Fabrik als Kraftnahrungshersteller für Sportler.
Aber da befinden wir uns bereits mitten in den Recherchen zum Fall Nawalny. Und mitten im Film «Navalny». Dem Dokumentarfilm des heute 29-jährigen Kanadiers Daniel Roher. Er war Teil von Nawalnys Team, von dessen Aufenthalt in Berlin bis zu dessen Verhaftung bei der Rückkehr nach Moskau am 17. Januar 2021.
Während fünf Monaten ist Roher live dabei. Zeichnet auf, wie Nawalny seine eigene Geschichte zu TikTok-Spässen verkürzt. Wie er liebevoll Rudimente eines Familienlebens pflegt. Wie ihm das detektivische Aufdecken des Mordanschlags, der ihm selbst galt, neue Energie gibt. Es ist einer jener Dokumentarfilme, die ganz selten geschehen. Der mit einem Oscar prämierte «Citizenfour» gehört dazu, auch da waren wir unmittelbarer Teil von Edward Snowdens Whistleblowing in einem Hotelzimmer in Hongkong. Jetzt sind es Detektivarbeiten in einem Ferienhaus im Schwarzwald.
Mit dabei ist auch der angejahrte rumänische Nerd Christo Grozev. Er ist leitender Russland-Ermittler bei Bellingcat, einer investigativen Rechercheplattform, die sich um Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Finanzkriminalität kümmert. Bellingcat vertraut Daten, nicht Menschen. Und Daten kann Grozev im Darknet kaufen. Besonders russische Daten. Denn gegen Geld vergessen die Besitzer der Daten jede Verpflichtung zum Datenschutz.
Grozev kauft und kombiniert Daten von Signal Institut, Autovermietungen und Flugbuchungen nach Tomsk um den 20. August und eruiert so drei Mitarbeiter des Inlandgeheimdienstes, die mit Nawalny in Tomsk waren. Als Grozev sich sicher ist, fährt er zu Nawalny, obwohl er ihn nicht besonders sympathisch findet. Denn Nawalny pflegte in den Anfängen seiner Karriere Kontakte zur rechtsextremen Szene in Russland.
«In einer normalen Welt», beantwortet Nawalny eine von Rohers Fragen, die ihm gelegentlich so lästig sind, dass er den Regisseur aus dem Zimmer schmeisst, «würde ich niemals Seite an Seite mit den Nazis marschieren. Aber es geht um Koalitionen, um breite Koalitionen. Ich betrachte es als meine Superkraft, dass ich mit allen reden kann. Ich habe kein Problem damit.»
Überhaupt hat Nawalny keine Probleme mit sich. Und keine Geduld. Rohers Frage, was seine Botschaft an Russland sei, wenn der nächste Mordanschlag erfolgreich wäre, hasst er. Plötzlich droht der Film, den er selbst angeleiert hat, zum Nachruf zu werden. Aus «langweiligen Erinnerungen». Seine Zeit ist das Jetzt. Seine Medien sind die sozialen, nicht die klassischen. Im Grunde ist ihm ein Film, der Monate von Nachbearbeitung, Dramatisierung und Verdichtung braucht, zuwider.
Nawalny sieht sich ganz klar als nächsten Präsidenten. Er will Russland vom Joch der Korruption erlösen. Für Putin ist er Lord Voldemort, einer, dessen Namen nicht genannt werden darf, «die Person» eben, eine Entität, an die weder Respekt noch irgendeine Art von Empathie geknüpft sind.
Natürlich ist Roher auch bei dem berühmten Telefongespräch zwischen Nawalny und einem der Geheimdienst-Chemiker, die den Anschlag verübten, zugegen. Nawalny gibt sich als Vorgesetzter aus, der andere erzählt bereitwillig alles, von der Unterhose, dem Gift und der Enttäuschung, dass Nawalny in Omsk «zu früh» ein Entgiftungsmittel gespritzt kriegte. Ein ungeheuerlicher Moment. Und obwohl wir schon alles darüber zu wissen glauben und seither viele Monate vergangen sind, sind die Enthüllungen erschütternd und die Emotionen physisch spürbar.
Doch alles hilft nichts gegen Putin. Die Polizeigewalt gegen Nawalnys Anhänger bleibt ultragrausam. Und nur wenige Minuten, nachdem er wieder den Boden seines geliebten Moskaus unter den Füssen hat, wird Nawalny am Zoll verhaftet. Als ihn seine Frau Julia zum letzten Mal küsst, steht Angst in seinen Augen. Zum ersten Mal. Jetzt ist er in einer Strafkolonie. Wenn es nach Putin geht, für mindestens zwanzig Jahre.
«Navalny» wurde im Januar 2022 zum ersten Mal am Sundance Film Festival gezeigt und erst kurz vor der Vorführung überhaupt angekündigt, zu gross war die Angst vor einem russischen Anschlag. Jetzt läuft er auf HBO und gleichzeitig in 800 amerikanischen Kinos, angesichts des Kriegs gegen die Ukraine gilt er als wichtiges Brennglas auf Putins gnadenloses Regime.
Roher, der mit seinem letzten Dokumentarfilm noch zu einem Festival nach Moskau eingeladen wurde, macht sich keine Illusionen über seine künftige Beziehung zu Russland. Wenn er Glück hat, wird sie einfach nicht mehr bestehen. Wenn er Pech hat, wird sie jetzt für ihn umso schmerzhafter spürbar.
«Navalny» läuft bei uns ab dem 28. April im Kino. Am 27. April veranstaltet die NZZ im Zürcher Kino Le Paris eine Vorpremiere mit anschliessender Diskussion, der Ticketerlös ist zugunsten der Ukraine.
Da kann ich, wenn ich diesen Artikel lesen, nur einmal mehr den Kopf schütteln.
Wäre Trump mit seinem geplanten Coup und Regierungsumsturz durchgekommen und wäre Fox News das einzige Medium in den USA, ja dann könnten wir ansatzweise darüber diskutieren...