Ich erinnere mich an die Tage als Filmwissenschaftsstudent, als ich immer und immer wieder auf der Film-Datenbank IMDB die bevorstehenden Projekte meiner cineastischen Lieblinge durchscrollte. Pacino, Pesci, De Niro, Scorsese – unter anderem, versteht sich. Am Tag X (es muss etwa im Jahr 2015 gewesen sein) stand bei diesen Vieren unisono «The Irishman» zuoberst. Innere Ekstase, der Kinohimmel schien der Welt gütig gestimmt.
Dann aber lange nichts. Weder Updates, noch Drehstarts oder sonst welche Termine. Rückblickend lässt sich dies einfach erklären: Produzent Fábrica de Cine sprang 2016 aufgrund der steigenden Produktionskosten ab, was bedeutete, dass auch Paramount Pictures die Reissleine zog.
Grund dafür waren die horrenden Kosten für CGI (Computer Generated Imagery), die dafür verwendet wurden, die Haudegen De Niro, Pacino und Co. für die erste dramaturgische Hälfte des Dekaden-umspannenden Films visuell jünger zu machen. 2017 sprang Netflix in die Bresche, stellte Scorsese jegliche finanzielle Mittel zur Verfügung und rettete so Scorseses Projekt. Zum Glück?
Scorsese übt sich in diesem Film am multidimensionalen Sezieren. Er seziert Figuren. Er seziert das ganze Phänomen des organisierten Verbrechens. Und er seziert Stimmungen. Insbesondere das ist grandios, auch wenn es Zeit braucht.
Der Film ist mit einer Laufzeit von dreieinhalb Stunden verhältnismässig lang. Doch die Laufzeit ist nun mal kein Kriterium, solange die Zeit genutzt wird. Oder um in der obigen Metapher zu bleiben: Ein Chirurg, der am offenen Herzen operiert – in Scorseses Fall wirkt es, als wäre es sein eigenes – soll nicht auf die Zeit achten müssen.
Organisiertes Verbrechen ist Scorseses Steckenpferd. Dieses Genre verlangt eigentlich nicht nach einer facettenreichen Psychologisierung der Figuren. Eigentlich. In diesem Film jedoch schien es Scorsese am Herzen zu liegen, die Geschichte sauber, beinahe klinisch aufzubauen und zu erzählen.
Die Dekaden, in denen der Zuschauer dem «Irishman» Frank Sheeran durch die Hintertüren der Mafia und an die Spitze der grössten Gewerkschaft folgt, fliessen subtil ineinander über. Es gibt kaum überstilisierte turning points, die einen plötzlichen Sinneswandel der Figuren erklären wollen, keine peaks, die als solche deklariert werden und ein baldiges Ungemach implizieren.
Es ist eine aufwändige, langwierige Form des filmischen Erzählens, die auch für die Schauspieler anspruchsvoll ist. Neben den eindrücklichen CGI-Effekten (die Technologie macht einem beinahe etwas Angst) passen De Niro, Pesci und Pacino ihr Schauspiel kontinuierlich und bemerkenswert nuanciert dem subtilen Wandel ihrer Figuren an. Kleinigkeiten, die dem Zuschauer beinahe zu viel Mühe abverlangen, um sie wahrzunehmen.
Die im Film zentralen zwischenmenschlichen Beziehungen werden behutsam skizziert. Sei es jene zwischen Sheeran und Russell Bufalino, zwischen Sheeran und Hoffa oder zwischen Bufalino und Hoffa. Sie verändern sich stetig, sie leben, atmen, sind am Ende nicht mehr dieselben wie zu Beginn. Doch die Übergänge dieser Veränderungen sind derart meisterlich verblendet, dass der Finger kaum auf einen spezifischen Zeitpunkt gelegt werden kann.
Auch auf eine klare Abgrenzung und Deklarierung der zeitlichen Episoden wird verzichtet. Wie viele Jahre zwischen verschiedenen Episoden genau verstreichen, ergibt sich höchstens aus dem Kontext. Dies schafft eine organische, authentische Qualität, die auch dazu führt, dass die Laufzeit des Films eher dahinschwindet als mühselig abläuft.
Ohne auch nur einmal das filmische Skalpell anzusetzen und Ecken und Kanten mutwillig hervorzuheben, gelingt Scorsese dank (endlich wieder einmal) brillanten Hollywood-Koryphäen und einem kaum je dagewesenen Sinn für filmisches Erzählen eine bemerkenswerte Charakterstudie.
Schiessereien, spektakuläre Faustkämpfe, protzige Mafia-Feten, klischeehafte Hochzeiten, femmes fatales, steinharte Cops, bilderbuchmässig korrupte Politiker, Saus, Braus und Trallala – all das sucht man vergeblich in «The Irishman». Der Film lebt viel von der Atmosphäre, die stets dicht, aber nie überladen (geschweige denn gesucht) wirkt.
Am besten zeigt sich dies am Sounddesgin. Damit ist nicht die Filmmusik gemeint, die unscheinbar (aber nicht unwichtig) im Hintergrund bleibt. Die Musik, die sich bei der jüngeren Generation von Regisseuren oft exhibitionistisch in den Vordergrund drängt, bleibt hier sehr zurückhaltend. Sie überlässt dem sogenannten Atmoton die Bühne. Kleine Geräusche, nicht spezifisch herausgearbeitet oder stilisiert, sondern einfach da. Der Film lebt.
Die zwielichtigen Gestalten der New Yorker Unterwelt – dass jede und jeder von uns wahrscheinlich ein ähnliches Bild im Kopf hat, spricht Bände bezüglich der filmischen Darstellung solcher Figuren – sind in «The Irishman» in erster Linie einfach Menschen, die sich auch mal in sinnlosen, beinahe situationskomischen Dialogen verlieren.
Natürlich verzichtet Scorsese nicht gänzlich auf die Klischees, wie die leeren Restaurants, in denen die ganz unheimlichen Pakte geschlossen werden, Schmiergeldzahlungen an Beamte oder das eine oder andere Kleidungsstück. Doch der Mafia-Mief kommt dabei selten auf, weil nicht die Drahtzieher alleine, sondern die Beziehung der rechten Hand Frank Sheeran zu diesen Personen im Vordergrund steht. Ein angenehmer Perspektivenwechsel, der neuen Elementen des mafiösen Treiben Platz verschafft.
Die komplette Abwesenheit eines allfälligen Machtanspruchs von Sheeran ermöglicht es zudem, das Treiben rund um Schutzgeld, Erpressungen, Bestechungen und Mordaufträge etwas distanzierter, nüchterner zu betrachten. Das Subtile macht den Ton, das Offensichtliche sorgt pointiert für Rhythmuswechsel. Es ist ein Atmofilm über eines der lautesten filmischen Sujets.
Beim breiten Publikum wird der Film vermutlich nicht auf grenzenlose Begeisterung stossen. Nicht alle haben Lust und Zeit sich einer solch feinschneidigen filmischen Wucht mit der nötigen Geduld zu widmen. Ein Film halt, der die eher schwer verdauliche Aura eines Meilensteins hat. Und in meinen Augen ist es auch nicht Scorseses bester Film (auch wenn es bis hierhin so geklungen haben mag).
Dazu fehlt dem Film in meinen Augen phasenweise etwas Tempo, etwas Direktheit, eine Prise Frechheit und ja, auch gewisse Spannungsmomente. Wer Scorsese mag, der wird den Film jedoch lieben – ungeachtet der Tatsache, dass es (vielleicht) nicht Scorseses grösster Wurf ist. Denn eines ist er ganz bestimmt: Scorseses persönlichster Film.
Die oben angetönte Liebe, mit der Scorsese Schicht um Schicht, Jahr um Jahr abträgt, ist nichts anderes als ein Liebesflim; ein Liebesfilm von Scorsese an das Mafia-Filmgenre. Respektvoll, nüchtern und mit liebevollem Augenzwinkern liefert er ein audiovisuelles Stillleben des organisierten Verbrechens. Nicht, als würde Scorsese das organisierte Verbrechen gutheissen. Er ist lediglich seinem cineastischen Charisma erlegen. Nun scheint die Zeit gekommen, dieser innigen Liaison zu huldigen.
Wer für Unterhaltung, Bespassung und Action ins Kino geht, wird hier nicht fündig und wird sich dreieinhalb Stunden lang den Hintern taub sitzen. Wer aber den schönsten, differenziertesten (Meta-)Liebesfilm eines Grossmeisters an sein Genre sehen will, der ist hier genau richtig.
Release-Datum: «The Irishman» läuft ab dem 14. November 2019 in ausgewählten Schweizer Kinos. Voraussichtlich erscheint er ab dem 27. November auch auf der Streaming-Plattform Netflix.
Oder weiss zufällig jemand, in welchen Kinos der Film morgen bereits läuft?