Der Hund ist bekanntlich des Menschen bester Freund. Wird ihm etwas angetan, kann man schnell mal rotsehen. Im Fall von John Wick ist sein herziger Beagle mehr als der treue Begleiter, er vereint Symbol und Erinnerung. Als posthumes Geschenk seiner an einer Krankheit gestorbenen Frau steht er für die letzte Verbindung des Ehepaars zueinander. Bis eine Gruppe von russischen Jugendlichen ins Haus eindringt, John Wick verprügelt, seinen Sportwagen stiehlt – und den Hund erschlägt.
In jedem Drehbuchkurs lernt man: Wer auf der Leinwand ein niedliches Wesen rettet, steht auf der richtigen, der guten Seite. Nicht umsonst heisst ein bekannter Storytelling-Ratgeber «Rette die Katze!» Umgekehrt gilt: Die Taten des ärgsten Unholds werden moralisch immer von denjenigen unterboten, die sich an einem Tier vergehen.
Für so jemanden kennen die Gesetze des Kinos ebenso wenig Gnade wie John Wick für die Mörder seines Hundes. Denn diese haben nicht bedacht, dass ihr Opfer keineswegs ein einsamer «verdammter Niemand» ist, der mal wieder einen Haarschnitt vertragen könnte. Sondern eine krass präzise Tötungsmaschine, die sich eigentlich in den Ruhestand begeben hatte.
Aus der zunächst etwas schlicht und albern klingenden Prämisse «Mann tötet wegen Hund – und zwar alle, die ihm im Weg stehen» entwuchs seit 2014 eine der erfolgreichsten Action-Reihen der jüngsten Zeit, deren Filme länger und länger und länger wurden. Mit «John Wick: Chapter 4» geht es nun in die vierte Runde, 169 Minuten lang.
So wie 2002 «The Bourne Identity» für mehrere Jahre die Wackelkamera und hektische Schnitte als Standard für Kampfszenen definierte, war der erste Teil von «John Wick» der Startschuss für das perfekt choreografierte, mit der Kamera kreisende Kugelballett heutiger Action-Filme. Die «Väter» von «John Wick» stammen selbst aus der knüppelharten Praxis des Fachs; Chad Stahelski und David Leitch waren zuvor als Stunt-Koordinatoren tätig, unter anderem bei der «Matrix»-Reihe.
Von dort kommt auch Keanu Reeves als John Wick, der Schauspieler, der wegen seiner Beteiligung in spassigen Filmen wie «Bill & Ted’s Excellent Adventure» oder «Speed» nicht recht ernst genommen wurde und dem die breite Anerkennung lange verwehrt blieb. Obwohl er auch für grosse Regisseure vor der Kamera stand, sich bei Francis Ford Coppola als Jonathan Harker gegen Dracula zur Wehr setzte oder für Bernardo Bertolucci als «Little Buddha» meditierte, hing ihm der Ruf des ewig Talentlosen an.
Zu sehr wurde das Spiel des Kanadiers als ungelenk belächelt, seine Gestik für zu starr befunden, seine Gesichtsausdrücke für limitiert. Im Privatleben musste Reeves etliche Schicksalsschläge verkraften: 1993 starb sein enger Freund River Phoenix, der Bruder von Joaquin, an einer Überdosis Drogen. Sechs Jahre später verlor Reeves mit seiner damaligen Partnerin Jennifer Syme die gemeinsame Tochter noch vor der Geburt. Syme verunglückte 2001 tödlich mit dem Auto.
Die Rolle des John Wick bescherte Keanu Reeves 2014 ein Karrierehoch im Alter von 50 Jahren. Zugleich steigerte sich sein Ansehen immens, als im Internet zunehmend verbreitet wurde, welch Musterbeispiel an Bodenständigkeit, Höflichkeit und Rücksichtnahme der Star ohne Allüren sei. Er fährt mit der U-Bahn und bietet einer Frau seinen Sitzplatz an, er vermeidet auf Fanfotos unangenehm wirkende Berührungen, er hockt alleine auf einer Parkbank und isst ein Sandwich (woraus später ein Meme wurde).
Da seine jüngere Schwester Kim jahrelang gegen Leukämie kämpfte, spendete er einen Grossteil seines «Matrix»-Gehalts für die Krebsforschung. Der «New Yorker» titelte 2019 über den Mann, der mit sich geradezu überirdisch im Reinen zu sein scheint: «Keanu Reeves Is Too Good for This World» («Keanu Reeves ist zu gut für diese Welt»).
Auch seine Figur des John Wick ist ein Held in jenem unorthodoxen und tragischen Sinn, wie ihn unsere Gegenwart produziert. Die brutale Umgebung, in der dieser Auftragskiller agiert, scheint nur an der Oberfläche vollkommen absurd. In Wirklichkeit bildet sie in einem Zerrspiegel die herrschenden Verhältnisse ab.
Die gesamte Welt, die wir auf der Leinwand zu sehen bekommen, besteht aus krimineller Unterwelt. Jeder Club, jede Autowerkstatt, jedes Museum. In den Kirchen wird Geld gewaschen, die Polizei bemängelt bei Massakern höchstens die Lärmbelästigung, ein spezieller Reinigungstrupp entsorgt die Leichen. Selbst die Obdachlosen bilden ihre eigene Untergrundarmee, angeführt vom Bowery King (Laurence Fishburne).
Einziger Rückzugsort ist das Hotel Continental in New York, geleitet von der charismatischen Vaterfigur Winston (Ian McShane), wo sich die Killer – zumindest in der Theorie – einen tötungsfreien Safe Space eingerichtet haben. Lance Reddick, der am 17. März überraschend im Alter von 60 Jahren starb, hatte in jedem Teil markante Auftritte als gewiefter Concierge. «Arbeitest du gerade?», fragt man sich an der Bar. Jede und jeder weiss, was mit «Arbeit» gemeint ist. Und Loyalität muss besonders teuer bezahlt werden. In dieser bösen Version einer hochkapitalisierten Leistungsgesellschaft sind Oscar Wildes Worte wahr geworden: Wirklich alles hat seinen Preis und nichts einen Wert.
So erscheint auch das Tattoo auf dem breiten Rücken des Superkillers John Wick geradezu prophetisch-zynisch: «Fortis fortuna adiuvat» («Das Glück winkt dem Tüchtigen»). Und tüchtig muss dieser Unglückliche sein: Nachdem er sich im ersten Teil an den Mördern seines Hundes gerächt hat, setzt eine Kausalkette der Vergeltung ein, eine niemals endende Spirale der Gewalt. John Wicks ungewollter Wiedereinstieg ins Verbrechen schafft weitere Verpflichtungen, über deren Einhaltung der «High Table», eine Art kriminelles Weltgericht, wacht.
John Wick muss also immer weiter töten, selbst wenn er dabei nichts gewinnen kann, da er schon alles verloren hat. Und die anderen werden alles daransetzen, ihn zu töten, da immer wieder ein neues Kopfgeld auf ihn ausgesetzt wird. Radikaler wurde die Formel «homo homini lupus» («Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf») des liberalen Philosophen Thomas Hobbes kaum jemals in einem Actionfilm durchexerziert. Wohin soll das Ganze führen, wenn die Freiheit am Horizont immer durch neuen, blutigen Nebel verstellt wird? Ist diese Freiheit überhaupt möglich ohne den eigenen Tod? Oder wie John Wick zu Beginn des zweiten Teils gefragt wird: «Kann ein Mann wie Sie jemals Frieden finden?»
Eine mögliche Antwort darauf versucht der vierte Teil der Reihe, der ab dem 23. März in den Kinos startet. Eine Schlüsselszene spielt in Paris; nicht umsonst das Zentrum des Existenzialismus und auch der existenzialistischen Killer, wie Jean-Pierre Melville einen in «Der eiskalte Engel» erschaffen hat. John Wick muss pünktlich zum Sonnenaufgang ein Duell mit seinem Gegenspieler, dem Marquis de Gramont (sardonisch verkörpert von «It»-Clown Bill Skarsgård), an der Kirche Sacré-Cœur austragen.
Unser Held rennt also die lange Treppe zum Treffpunkt hoch. Doch da ihn wieder einmal die ganze Welt jagt, tauchen ständig Horden von Attentätern auf, die auf ihn schiessen oder ihn mit Fäusten und Tritten traktieren. Wie der Stein des Sisyphos kullert John Wick mehrfach bis zur letzten Stufe hinunter, nur um von vorne den Aufstieg in Angriff zu nehmen. Es ist der letzte Versuch, diesem absurden Killerleben einen Sinn zu verleihen und vielleicht auch ein Selbstverweis des Filmes, dass es nun wirklich um nichts mehr gehen kann.
Die grimmige Entschlossenheit ist längst einer tiefen Verlorenheit gewichen. «Goodbye my friend, it’s hard to die» («Lebewohl, mein Freund, es ist schwer, zu sterben»), heisst es zweideutig im Lied «Seasons in the Sun», das im Arrangement der Düster-Bombasten von Geek Music den Trailer unterlegt. Für den Killer bedeutet das Leben eine grössere Herausforderung als das Sterben. Vom trauernden Ehemann, der sich Videos seiner Frau ansah, wurde John Wick mehr und mehr zum Roboter, der auf Autopilot tötet. Kopfschuss folgt auf Kopfschuss, ein Totentanz, der niemals enden, sondern nur in eine neue Runde gehen kann. Nun wirkt John Wick endgültig wie ein unerlöster Geist, von Keanu Reeves fast schon wortlos gespielt.
Zu diesem vierten Kapitel, prosaisch ausgedrückt: dieser vierten Jahreszeit, dem Winter unseres Helden, werden die Meinungen auseinanderklaffen. Manche werden das überlange Actionfeuerwerk nur dafür feiern, weil es nach «John Wick» aussieht. Dabei ist die Luft deutlich raus aus einer Reihe, die sich trotz toller Gaststars wie Donnie Yen stilistisch wiederholt und aus der eigenen Prämisse keinen Ausweg mehr findet.
Es wäre konsequent, wenn dieser Film einen Schlusspunkt markiert, ehe man vollständig bei der Parodie ankommt. Oder – und das wird wohl leider mehr eine Frage des Einspielergebnisses als der inhaltlichen Kohärenz – «John Wick» wird endgültig zum Franchise werden mit unendlich vielen Kapiteln. Ein Spin-off und eine Prequel-Serie sind bereits geplant. Eigentlich kann es für John Wick keine Erlösung geben. Oder doch?
«John Wick: Chapter 4»: Ab dem 23. März im Kino.
nichts studieren,
nichts vestehen,
Nur pure Unterhaltung.
Hole mal 🍿 raus.....freu mich