Sie gehören zusammen schon fast so wie die Olive zum Martini: Pünktlich zum Sommerloch erscheint jedes Jahr eine brandneue Megastudie zu den Gefahren von Alkoholkonsum. Das war letztes Jahr so, vorletztes, und auch die drei Jahre davor. Traditionellerweise berichten alle wichtigen und weniger wichtigen Medien über die neuen Erkenntnisse - wirklich ändern tun sie aber nichts, weil wir die Meldungen schon zu oft gelesen haben.
Doch dieses Jahr hat nicht nur einfach die Weltgesundheitsorganisation WHO eine neue Untersuchung publiziert. Sondern ein Forscherteam seine Studie in der wichtigsten medizinischen Fachzeitschrift der Welt, dem «Lancet». 576 Forscher haben mitgearbeitet, darunter Professoren von den renommiertesten Universitäten der Welt. Beteiligt sind unter anderem Harvard, Oxford und Stanford. Viel mehr wissenschaftliche Autorität geht gar nicht.
Die Erkenntnisse schenken dann auch ordentlich ein: Bisher ermittelte Maximalmengen für schadlosen Alkoholkonsum sind laut den Forschern viel zu hoch angesetzt. Bis heute geht die Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung davon aus, dass Frauen täglich ein Glas Wein und Männer zwei Stangen Bier ohne Risiko trinken können. Die Studie senkt diese Grenze für Leute unter 40 massiv nach unten: Sinnvoll wären für Junge demnach maximal ein bis zwei Esslöffel Wein pro Tag.
Anders sieht es bei den über 40-Jährigen aus: Sie können die nächste Flasche auch ohne Pipette öffnen und ein bis zwei Gläser Roten trinken. Der tue im Alter der Gesundheit nämlich sogar gut: Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten und Schlaganfälle treten bei moderaten Trinkern seltener auf.
Studienleiterin Emmanuela Gakidou von der Universität Washington:
In der bitteren Realität ist es heute genau andersrum: Mehr als 60 Prozent der heftigen Trinker sind unter 40-jährig und 75 Prozent davon sind männlich. «Obwohl es unrealistisch ist, zu glauben, dass junge Erwachsene aufs Trinken verzichten werden, halten wir es für wichtig, die neuesten Erkenntnisse zu kommunizieren, damit jeder fundierte Entscheidungen über seine Gesundheit treffen kann», erklärt die Wissenschafterin Gakidou ihre Position.
Die «Lancet»-Studie hält fest, dass Alkohol die Menschen unterschiedlich stark schädigt. In trockenen Zahlen zeigte sich das bei der Verteilung der alkoholbedingten Krankheiten aufgeteilt nach Weltregion. Dafür verantwortlich sind vermutlich die verschiedenen genetischen Varianten der Alkoholdehydrogenase, jenes Enzyms, das Alkohol abbaut - aber auch die sozialen Konventionen und die getrunkenen Mengen. Die Studienautoren empfehlen den Fachgesellschaften entsprechend, ihre Empfehlungen zum Alkoholkonsum an individuelle Eigenschaften zu binden.
In einem weiteren Punkt widerspricht die Studie der geltenden Lehrmeinung: Anders als das Alter spiele das Geschlecht keine Rolle für die gesundheitlichen Auswirkungen von Alkohol. Es gilt zwar weiterhin, dass Frauen im Durchschnitt wegen der kleineren Körpermasse prozentual mehr Alkohol im Blut haben und ihn deshalb stärker spüren, dies führe aber nicht unbedingt zur Entwicklung von zusätzlichen Krankheiten. Die Wissenschafter raten darum von geschlechtsspezifischen Empfehlungen fürs Trinken ab.
Gerade dieser Punkt wurde in den letzten Tagen intensiv diskutiert. Trotz aller Seriosität hat die Studie nämlich auch Mängel, welche die Aussagekraft zum Teil einschränken. So wurde in der Analyse nicht zwischen Trinkern mit wenigen schweren Episoden und solchen, die täglich wenig konsumieren, unterschieden. Auch stammen die Daten von der Zeit vor Covid, weshalb die veränderten Trinkgewohnheiten in der Pandemie nicht berücksichtigt wurden. Und für Verschwörungstheoretiker ein gefundenes Fressen: Die Studie wurde von der «Bill and Melinda Gates Foundation» finanziert.
Die Debatte um die Bedeutung des Alkohols für Gesundheit und Krankheit wird auch die Titelgeschichte des «Lancets» nicht beenden können. Aber sie macht klar, dass medizinische Fragestellungen heute nicht mehr mit einer einzigen Standardantwort oder Empfehlung für alle gelöst werden können.
Allgemeingültige Gewissheiten gibt es nur wenige - Alkohol erhöht das Krebsrisiko und kann süchtig machen, senkt dafür aber wohl bei manchen das Risiko für bestimmte Kreislauferkrankungen. Weitere absolute Gesetzmässigkeiten sind aufgrund von Tausenden, sich widersprechenden Studien zurzeit nicht ableitbar. Deshalb muss man auch weiter nicht jede neue Studie bierernst nehmen.
Ich frage mich nur, wie lange das dauert, den Weinkeller auszulöffeln.