Es war einmal eine unschuldige, übersichtliche Zeit. Es gab noch kein watson und es gab auch noch keinen einzigen Streamer in der Schweiz. Wie watson ging bei uns nämlich auch Netflix 2014 als Streaming-Anbieter ins Netz. 2018 folgten Sky Show und Amazon Prime Video. 2019 Apple TV+. Und 2020 Disney+. So jung ist unsere visuelle Überflussgesellschaft erst.
Damals, quasi in der seriellen Altsteinzeit, gab es pro Jahr nur wenige grosse internationale Mehrteiler, die man gesehen haben musste, um mitreden zu können. Serien von privaten Anbietern wie HBO oder Showtime, die sich in der Qualität der Drehbücher und Ensembles sowie in der Höhe der Budgets meilenweit von bisherigen TV-Serien abhoben.
Ab 1999 begeisterte das Vollblut-Mafiosi-Epos «The Sopranos». 2001 begannen das Bestattungs-Dynastie-Drama «Six Feet Under» und die Terror-Bekämpfungs-Serie «24», 2002 widmete sich Baltimores Polizei in «The Wire» dem Kampf gegen Drogen, 2004 irritierte das Flugzeug-Absturz-Mystery «Lost» samt seinen geheimnisvollen Rauchmonstern und Bunkern, 2007 betörte die stylishe New Yorker Werber-Saga «Mad Men» und 2008 begann der Chemielehrer Walter White in «Breaking Bad» Crystal Meth zu brutzeln.
2010 war das grosse Nostalgie-Jahr: In «Downton Abbey» beschäftigten sich britische Adelige mit Heiratsstrategien, Bällen und Teetrinken, Benedict Cumberbatch ermittelte zum ersten Mal neurotisch als «Sherlock», und Martin Scorsese gebar mit dem Prohibitions-Drama «Boardwalk Empire» die bis anhin teuerste Serie der Welt.
2011 kamen «Game of Thrones» und die erste Staffel «Black Mirror» und die Welt war eine andere, war zugleich voller Drachen, Prinzessinnen und futuristischer Technik – und alles war faszinierend und bedrohlich. Immer wieder blitzten die düsteren Sterne des Nordic Noir durch den angelsächsischen Import.
Das musste man kennen und natürlich auch noch die eine oder andere apokryphe Serie, von der garantiert noch niemand gehört hatte. Dann liess sich jedes Tischgespräch bestreiten und die Frage: «Kannst du mir was empfehlen?», ebenso fadengerade wie nerdig beantworten. Das war auch medial gerade noch bewältigbar und liess sich in jeder möglichen Länge thematisieren, auch wenn damals noch kein Feuilleton-Chef fand, dass Serien zu den Grundpfeilern unseres Kulturkonsums gehörten.
Dabei befriedigen Serien menschliche Grundbedürfnisse. Nach der stabilisierenden, beruhigenden Wirkung von liebgewonnenen Ritualen. Oder nach eskapistischem Rausch. Nach dem Kinderbuch, das einem die Eltern früher Kapitel für Kapitel vor dem Schlafengehen vorgelesen haben. Oder nach dem unendlichen Luxus, wenn man sich in den Ferien tagelang mit einem Abenteuerroman aus dem Alltag hinauskatapultieren konnte. Und immer wurden die erst fremden Figuren zu Vertrauten.
Serienkonsum braucht Zeit. Das macht ihn ja auch so schön. Über Serien zu schreiben, braucht ebenfalls viel Zeit, sonst lässt sich nichts Wesentliches sagen. Doch bis ich endlich so weit bin, bis ich meinen Tagen die Stunden habe abtrotzen können, die es braucht, um drei, vier, fünf Folgen oder besser noch die ganze Staffel einer Serie gesehen zu haben und eingetaucht zu sein in das Geflecht aus Menschen, Ereignissen, Stimmungen, bis ich also wage, über eine Serie eine differenzierte Meinung zu äussern, ist bereits schon die nächste gestartet. Ich weigere mich, bloss über eine Pilotfolge zu schreiben, einen Film schaue ich ja schliesslich auch zu Ende, bevor ich ihn bespreche.
Im Grunde ist mein «Problem» ein wunderbares. Es gibt nicht nur zu viele Serien, es gibt darunter auch zu viele richtig gute. Oder waren die vergangenen Monate – ich beschränke mich hier auf 2024 und das erste Quartal 2025 – nicht toll? Gerade Netflix hat in dieser Zeit sehr vieles richtig gemacht. Da waren die bekannten Hypes von «Baby Reindeer», «Ripley», «Bridgerton», «Adolescence» und «Squid Game» (ich war allerdings enttäuscht von der zweiten Staffel). Doch da war noch viel mehr:
Fast noch besser als die erste ist die zweite Staffel von «The Diplomat» gelungen, wie smart ist das geschrieben, was für coole Dialoge, und wie schier unerträglich spannend ist die Geschichte um eine international verstrickte amerikanische Botschafterin (Keri Russel, schon in «The Americans» genial) und ihren Mann in England!
⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ (5/5)
Apropos England: «Black Doves» mit Keira Knightley und Ben Whishaw ist ein Genuss von einem Spionage-Thriller, was für eine Chemie zwischen den beiden, und wie lustig ist das und hat man schon jemals ein so originell gestaltetes Doppelleben wie jenes von Keira Knightley gesehen?
⭐️⭐️⭐️⭐️ (4/5)
Ähnlich crazy britische Vibes gibt es auch in Guy Ritchies «The Gentlemen», quasi einer Parodie auf «Downton Abbey»: Ruinierte Adelige versuchen mit interessanten kriminellen Aktivitäten ihren Landsitz zu retten.
⭐️⭐️⭐️⭐️ (4/5)
Leider, leider schon nach einer Staffel gecancelt hat Netflix «Kaos», das Lustigste, Originellste und Klügste, was jemals mit antiken Göttern (findet auch unsere Antike-Götter-Expertin Anna Rothenfluh) veranstaltet wurde. Die Inszenierung des Totenreichs ist überwältigend. Und erst die Zungenwand von Göttin Hera! Doch die Satire auf die griechische Mythologie erreichte ganz einfach zu wenig Publikum. Leider nicht erstaunlich: Wer kennt sich damit heute noch ähnlich genau aus wie die Serienmacher und Anna Rothenfluh?
⭐️⭐️⭐️⭐️ (4/5)
Regelrecht «mindblowing» ist «American Primeval», die schier unerträglich brutale Western-Serie über den Kampf um Land zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Köpfe dahinter: Drehbuchautor Mark L. Smith («The Revenant») und Regisseur Peter Berg (er war der Produzent von «The Leftovers»). Hardcore, aber grossartig.
⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ (5/5)
Das Weisse Haus kommt selbstverständlich nie ausser Mode und fast immer ist es sehr interessant: «The Residence» von «Bridgerton»-Produzentin Shonda Rhimes ist wieder fettester Ausstattungs-Eskapismus, äusserst amüsante Murder-Mystery-Unterhaltung in einem Washington, das selbstverständlich das absolute Gegenteil der real existierenden Katastrophe ist. Uzo Aduba («Orange Is the New Black», «Mrs. America») ist umwerfend als Detektivin, die einen Mord im Weissen Haus aufklären muss. Und Kylie Minogue macht mit.
⭐️⭐️⭐️⭐️ (4/5)
Willkommen im ... Weissen Haus! Nein, nicht ganz, die aktiven Tage von Ex-Präsident George Mullen (Robert De Niro) sind schon seit einiger Zeit vorbei, doch jetzt soll er mit seiner ganzen patriarchalen Autorität helfen, einen tödlichen Cyberangriff aufzuklären und die Bevölkerung zu beruhigen. Logisch, dass er sich bald einem Netzwerk des Grauens gegenübersieht. In den flankierenden Rollen: Jesse Plemons und Lizzy Caplan als Ex-Berater und Tochter, schauspielerisch ein Hochgenuss, drehbuchtechnisch nicht immer.
⭐️⭐️⭐️ (3/5)
Wer nach einem harten Arbeitstag den schnellen und effizienten Thrill will, liegt bei der «Harlan Coben Collection» nie falsch. Der amerikanische Bestsellerautor aus Maine schreibt simple Bücher, die alle in Maine spielen, sich aber international adaptieren und problemlos in diverse Netflix-Herstellungsländer verpflanzen lassen. Am besten sind die in Osteuropa (stolze Filmländer eben) gedrehten Miniserien «Friede den Toten» und «Das Grab im Wald», aber auch die französische Coben-Fassung «Kein Lebenszeichen» ist gut. Und das Beste: Alle paar Monate (oder sind es bloss Wochen?) kommt eine neue Staffel.
⭐️⭐️⭐️ (3/5)
Doch schauen wir mal bei Apple+ vorbei. Muss man «Slow Horses» überhaupt noch erwähnen? Also: Gary Oldman spielt den vollkommen verkommenen ehemaligen MI5-Agenten Jackson Lamb. Er leitet quasi die Resterampe des MI5, ein gammeliges Grümscheli-Büro irgendwo in London, in das allzu renitente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter strafversetzt werden. Needless to say – ihre Art, Fälle zu lösen, ist enorm viel unterhaltsamer als die der korrekten Kollegen.
⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ (5/5)
Meine persönliche Lieblingsserie 2024 war die Apple+-Produktion «Lady in the Lake». Eine echte Perle – vorausgesetzt man mag Natalie Portman. Wie in «The Wire» sind wir in Baltimore, doch jetzt in den 60er-Jahren, wo eine Hausfrau (Portman) ihre Familie verlässt, zur Reporterin wird und versucht, zwei Mordfälle an jungen Frauen zu lösen. Einer findet in der jüdischen, der andere in der schwarzen Community von Baltimore statt, beide scheinen miteinander verbunden zu sein. Sehr spannend, unglaublich clever erzählt und irrsinnig schön ausgestattet. Und die frisch gekürte Oscar-Gewinnerin Mickey Madison hat auch eine kleine Rolle.
⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ (5/5)
Seit mir Jake Gyllenhaal eines Tages in Paris beim Pouletkaufen über den Weg gelaufen ist, verpasse ich nichts von ihm. Nein, stimmt üüüberhaupt nicht. Also das mit dem Nichtsverpassen, das mit Paris schon. «Presumed Innocent», die Serialisierung des gleichnamigen Films mit Harrison Ford beziehungsweise des Romans von Scott Turow, ist gewiss nicht der beste Gyllenhaal, aber auch kein schlechter. Und die Ausgangslage – ein Staatsanwalt (Gyllenhaal) wird zum Hauptverdächtigen im Mordfall an seiner Kollegin, mit der er eine Affäre hatte – ist natürlich äusserst zielführend in Sachen Spannung.
⭐️⭐️⭐️ (3/5)
Für alle, die sich fragen, ob man «Disclaimer» mit Cate Blanchett schauen soll. Nein, man soll das trotz Cate Blanchett und trotz Spitzenregisseur Alfonso Cuarón («Children of Men», «Gravity», «Roma») wirklich nicht schauen, die Geschichte einer Investigativ-Journalistin, die sich plötzlich als verbrecherische Protagonistin in einem Roman wiederfindet, ist todesnervig erzählt und doof.
⭐️ (1/5)
Die zweite Staffel von «Severance» ist aktuell die meistgeschaute auf Apple gezeigte Serie aller bisherigen Zeiten, sie übertrifft sogar die Quoten von «Ted Lasso». «Severance» (Regie und Produktion: Ben Stiller) ist eine gnadenlose Parabel auf die Arbeitswelt, die von den Menschen verlangt, dass sie ihre Persönlichkeit an der Pforte aufgeben und sich in tatsächlich hirnamputierte, einer sinnlosen Tätigkeit nachgehende Sklaven verwandeln. Gelegentlich so schleppend wie ein Bürotag, aber absolut einzigartig unter allen Serien, die es gibt.
⭐️⭐️⭐️⭐️
(4/5)
Schauen wir noch bei Sky vorbei: Über «House of the Dragon» haben wir ja schon ausführlich berichtet, und auch die zweite Staffel «The Last of Us» wird bald wieder von TLoU-Kenner Patrick Toggweiler bekränzt werden.
Leider ist auch die dritte Staffel von «The White Lotus» nicht mehr so gut wie die erste, das war so viel schärfer, böser und lustiger geschrieben. Aber natürlich schaut man sich immer noch gerne an, wie schlecht es neurotischen Superreichen in einem Luxusresort so gehen kann. Und jetzt machen sie auch noch Inzest! Zudem sind Carrie Coon, Parker Posey, Patrick Schwarzenegger und Aimee Lou Wood schlicht himmlisch.
⭐️⭐️⭐️⭐️ (4/5)
Zuerst war ich mir nicht sicher: Ist das jetzt cringe oder vollsuper? Aber genau das ist ja der Trick von «Hacks» – genau das unablässige Cringe macht die Serie, die in den letzten Monaten alle Preise fürs komische Genre gewann, ja so super. Eine alternde Comedienne muss sich neu erfinden und stellt eine junge Witzeschreiberin ein. Es ist ein Kampf der Generationen und Kulturen, fast alles geht gnadenlos schief zwischen den beiden – und zwischen den Nebenfiguren läuft es fast noch schiefer. Sehr vergnüglich. Zu finden auf Sky Show (Staffeln 1, 2, 3), aber auch auf Netflix (Staffeln 1, 2).
⭐️⭐️⭐️⭐️ (4/5)
Eddie Redmayne als kalter Killer, der aus Rollkoffern Präzisionsgewehre bastelt, ist bis zuletzt erhaben, doch abgesehen von ihm hat mich «Day of the Jackal» nicht so richtig befriedigt. Leider sind einige der anderen grossen Rollen (besonders die Frauen) derart schitter geschrieben und besetzt, dass man gar nicht so oft wegschauen kann, wie man möchte.
⭐️⭐️
(2/5)
Auf Disney wurde in den letzten Monaten natürlich alles von «Shogun» dominiert. Zudem hat die Serie so ziemlich restlos alle Preise eingeheimst. Sie ist ja aber auch ein Prachtsbrocken! Man braucht etwa zwei Folgen, um sich ins Japan um 1600 einzuleben, um die dynastischen Verstrickungen und die schier unerträgliche Unterdrückung von Gefühlen und Bedürfnissen, denen sich die Menschen unterwerfen, zu begreifen. Doch dann ergibt man sich staunend diesem archaischen Epos und vor allem der so schicksalshaften Romeo-und-Julia-Geschichte zwischen dem britischen Seefahrer John Blackthorne und der adeligen Toda Mariko.
⭐️⭐️⭐️⭐️ (4/5)
Willkommen zurück im ... Weissen Haus! Nein, auch hier nicht ganz, wir sind nicht in Washington, sondern in einer unterirdischen Stadt, denn oberirdisch ist die Welt durch die Klimakatastrophe ausgelöscht worden. Und wer wird gleich zu Beginn ermordet? Natürlich der Präsident in seinem White-House-Ersatz. Eine interessante, unterhaltsame Versuchsanlage mit vielen «Truman Show»-Vibes, die etwas raffinierter geschrieben sein könnte.
⭐️⭐️⭐️ (3/5)
Waren die 80er-Jahre wirklich so dreist und sexbesessen, wie sie hier dargestellt werden? Wahrscheinlich nicht, doch die hypertrashige Verfilmung des Medienbranchen-Schundromans von Dame Jilly Cooper will sich auch gar nicht mit allzu sensiblen Realismen aufhalten. David Tennant, Alex Hassel und Aidan Turner befinden sich im Kampf um Rundfunklizenzen und Frauen und die Zugehörigkeit zur genüsslich verkommenen britischen Oberschicht. Just fun.
⭐️⭐️⭐️ (3/5)
Alles begann mit Kyle MacLachlan. Pardon, mit David Lynch und seiner Überserie «Twin Peaks» (1990), in der MacLachlan den legendären kaffeesüchtigen Ermittler Dale Cooper spielte. Es war der grosse Augenöffner: So ein gewagtes Wunderwerk konnte man im Serienformat anrichten und damit auch noch weltweiten Erfolg haben? Seither war MacLachlan in vielen Serien zu sehen, und jetzt ist er auch (ein kleiner) Teil von «Fallout» (nach dem gleichnamigen Game).
Wir sind in der postatomaren Apokalypse, eine kleine Elite hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in ein unterirdisches Bunkersystem geflüchtet und dort überlebt. Doch auch überirdisch lebt noch so einiges, vor allem ein ehemaliger Hollywood-Star (Walton Goggins, aktuell auch in «The White Lotus»), der zum nimmertoten, Leichen fressenden Kopfgeldjäger geworden ist. Grosse, grausame Abenteuer vor spektakulären Kulissen ergeben sich und gelegentlich ist es auch sehr lustig.
⭐️⭐️⭐️⭐️ (4/5)
Jaaaaa! Eine der besten BBC-Krimiserien aller bisherigen Zeiten gibt's auf Amazon Prime. Beziehungsweise, je nach Region, als Kaufvideo. Oder, falls ihr einen entsprechenden VPN-Zugang besitzt, auf dem BBC iPlayer. Es ist und bleibt etwas kompliziert. Aber was tut man nicht alles für guten Stoff?
Mörder gehen um im ehemaligen Minenstädtchen Sherwood, Shakespearsche Familienfehden entflammen, die Sparrows kämpfen gegen die Bransons, die bare Grausamkeit und Unberechenbarkeit des Alltags ist kaum auszuhalten und mittendrin der grosse Liverpooler David Morrissey als DCS Ian St Clair und eine sehr, sehr melancholische Lesley Manville. Hinreissend.
⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️ (5/5)
Und weil das Neue ja nicht alles sein kann, habe ich mir letztes Jahr alle alten Folgen von «Dr. House» (auf Netflix) wieder reingezogen, schaue aktuell und vermutlich zum dritten Mal sämtliche Staffeln meiner Forever-Lieblingsserie «Mad Men» (auf Netflix), habe gerade beschlossen, demnächst mal wieder mit «The Leftovers» (auf Sky) anzufangen (Carrie Coon!) und freue mich wie ein Kind auf die dritte Staffel «The Gilded Age» (Carrie Coon! Kommt irgendwann im Herbst auf Sky).
Und ihr so?
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