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Ein Berner Lehrer macht sich Gedanken zum Thema Spicken

Aus der Schule geplaudert: Lehrer M.s Gedanken zum Thema Spicken

Bild: shutterstock
16.02.2020, 14:2516.02.2020, 14:33
lehrer m.
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Spicken im Unterricht ist wahrscheinlich so alt wie der Unterricht selbst. Und Hand aufs Herz – wir alle haben es (schon) mal gemacht. Wenn man die Geschichte des Spickens untersuchen würde, könnte man wohl feststellen, dass sich auch die Methoden beim Spicken nicht fundamental geändert, sondern lediglich den aktuellen technischen Entwicklungen angepasst haben. Wahrscheinlich bestanden die ersten «Spicker» aus einem Knochen, einem Stück Baumrinde, einem Tontäfelchen oder einem Papyrus.

Warum wir spick(t)en

Fürs Spicken gibt es keinen einheitlichen Grund. Es kann vorkommen, dass jemand für eine bestimmte Prüfung keine oder zu wenig Zeit zum Lernen hat, es kann allerdings auch vorkommen, dass jemand für jede Prüfung zu wenig Zeit zum Lernen hat. Verwandte Motive wären wahrscheinlich Bequemlichkeit oder Faulheit. Natürlich spielt auch der Leistungsdruck eine Rolle, vor allem, wenn es um die Promotion geht oder wenn der erfolgreiche Abschluss einer Ausbildung gefährdet ist. Manchmal ist Spicken eine Massnahme zur Notenoptimierung, manchmal geht es auch nur um den Nervenkitzel und manchmal ist es eine pure Verzweiflungstat. Als ich vor langer Zeit 50 verschiedene Gesteinssorten auswendig lernen musste, kam ich auch auf die Idee, ein bisschen nachzuhelfen. Ich wertete das als Notwehr.

Neue Technologien, neue Möglichkeiten

Bei einem kurzen Streifzug durchs Internet konnte ich feststellen, dass sich in der Entwicklung des Spickens in den letzten 20–30 Jahren nicht extrem viel getan hat – wahrscheinlich sogar viel länger nicht. Beliebt ist immer noch der klassische Spickzettel, der auf möglichst raffinierte Art (auf einem Bierdeckel/Karton mit Reisszwecke, auf einem Lineal, auf einer Flasche, in einem Schreibblock etc.) vor dem Lehrer verborgen wird. Einige Schüler sind in dieser Beziehung wirklich sehr kreativ. Nach wie vor beliebt ist das Bekritzeln von Händen, Armen und Beinen. Vor allem bei Frauen, die Röcke tragen, sind Oberschenkel-Spicker ein sicherer Wert. Und auch abgeschrieben wird immer noch. Neu hinzugekommen sind Smartphone, Smartwatch, Kopfhörer und ausgeklügeltere technische Möglichkeiten. Spezial-Brillen und Implantate werden folgen. Tutorials zum Spicken gibt es im Netz zuhauf, deshalb erspare ich mir Details. Aber nicht vergessen: Unterdessen haben auch wir Lehrer das Internet entdeckt.

Auf die Prüfung kommt es an

Besonders einfach ist Spicken natürlich bei Multiple-Choice-Aufgaben und wenn es darum geht, Auswendiggelerntes wiederzugeben. In einer Prüfung ein oder zwei Fragen zu stellen, die die Schüler mit reinem Auswendiglernen beantworten können, finde ich in Ordnung, denn auch Fleiss kann oder soll belohnt werden. Aber eine Prüfung, bei der man alleine mit einem Spicker oder durch Spicken eine gute Note erreichen kann, ist keine gute Prüfung. Es sei denn, es handle sich um einen Vokabeltest. Sonst empfehlen sich Aufgaben, bei denen es um Anwendung, Analyse, Synthese und eigene Beurteilung eines Sachverhaltes geht. Das entspricht den Taxonomiestufen K3 bis K6 nach Bloom.

Luchse, Wanderer und Gechillte

In den Online-Tutorials zum Spicken wird empfohlen, den jeweiligen Lehrertypus zu studieren und einzuschätzen. Es gibt den «Wanderer», der das tut, was sein Name impliziert: Er wandert während der Prüfung unermüdlich durchs Zimmer, schaut in Etuis, Schreibblöcke und Taschen. Natürlich stört er alle, die sich auf die Prüfung konzentrieren möchten. Dann gibt es den «Luchs», der während der gesamten Prüfungszeit mit Adler- oder eben Luchsaugen beobachtet, ob alles mit rechten Dingen zu- und hergeht. Wenn man seinem Blick begegnet, fühlt man sich schuldlos schuldig. Und es gibt den «Gechillten», der völlig ungeniert Zeitung liest, im Internet surft oder korrigiert; bei ihm kann man gefahrlos spicken.

Zu Beginn meiner Zeit als Lehrer entwickelte ich einigen Ehrgeiz, Spicker zu ertappen und Betrug zu unterbinden. Das hat sich gelegt. Aus Loyalität zum System versuche ich noch immer, die dreistesten Betrugsversuche zu verhindern, aber den Aufwand halte ich relativ gering. Denn notorische Spicker nehmen niemandem etwas weg. Nur sich selbst. Und erfahrungsgemäss werden sie irgendwann von einem «Wanderer», einem «Luchs» oder sogar von einem vermeintlich «Gechillten» erwischt.

Wer betrügt eigentlich wen?

Jeder Schüler, jede Schülerin hat schon einmal gehört: Wer spickt, betrügt letztlich sich selbst. In dieser Absolutheit würde ich das nicht unterschreiben. Aber tendenziell stimmt es schon. Der Sinn von Noten ist vielen nicht mehr bewusst: Noten sind eine Rückmeldung, ob und inwieweit man den Lernstoff verstanden hat. Sie sind also eine Standortbestimmung und hoffentlich vor den Abschlussprüfungen eine ziemlich genaue Prognose, ob man es schaffen wird oder nicht. Und sie sind auch ein Selektionskriterium. Wer sich durch die ganze Ausbildung spickt, macht in erster Linie sich selbst etwas vor, denn er wird nie wissen, was er tatsächlich zu leisten imstande ist. Und wahrscheinlich knallt es einfach später – sei es in der nächsthöheren Ausbildung oder dann spätestens im Job.

Ein kurzer Blick in die Zukunft

In der Schule der Zukunft wird Spicken kein grosses Thema mehr sein. Vieles, was man heute noch in der Schule lernt, wird man nicht mehr lernen. Zum Beispiel Rechtschreibung und Grammatik: Dass smarte Programme in naher Zukunft fast fehlerfrei alles korrigieren werden, was wir falsch schreiben, ist keine gewagte Prognose. Im Geschichtsunterricht dienen Zahlen und Fakten schon heute bestenfalls dazu, auf ihnen basierend historische Zusammenhänge oder Verhaltensmuster zu erkennen, zu erklären und zu analysieren. In den meisten anderen Fächern dürfte es ähnlich ausschauen. Und wie man bei der Aneignung von zukünftig immer wichtigeren Skills wie Empathie- und Teamfähigkeit, Sozialkompetenz, kritischem Denken, Autonomie, Scheiternlernen, Kreativität oder gar «Happiness» effizient spicken soll, ist mir schleierhaft.

Wer ist Lehrer M.?

Lehrer M. ist eine Leihgabe des Kantons Bern. Ursprünglich wollte er während seines Bildungsurlaubs für uns Kaffee kochen und Texte korrigieren. Daraus wird aber nichts. Er soll für uns schreiben. Lehrer M. hat während seiner gut 30-jährigen Lehrerlaufbahn sämtliche Stufen unterrichtet: 1. bis 9. Klasse Volksschule, KV, Berufsmatur und Gymnasium. Gemäss eigenen Angaben arbeitet er seit bald 20 Jahren an der besten Schule der Schweiz Welt. Als journalistisches Greenhorn soll er bei uns (vorerst) über das schreiben, was er am besten kennt: die Schule. Wenn du Fragen oder Anregungen hast oder möchtest, dass sich Lehrer M. eines bestimmten Themas annimmt, kannst du deinen Input an lehrer.m@watson.ch senden.
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53 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Tomster
16.02.2020 15:21registriert April 2018
Ich unterrichte Sek B und C Klassen (also die beiden tiefsten Niveaus). 90% der Zeit geht für das Üben von Arbeitsweisen, Arbeitshaltung, Höflichkeit und generell den Umgang miteinander drauf. Auf diesen Stufen ist fachlich eigentlich nur einigermassen korrektes Deutsch und grundlegende Mathe wichtig. Schon beim Vergleich eines doppelten Blutkreislaufs mit einem einfachen ist für die meisten Schüler „stack overflow“. Auch Spicken ist schon viel zu anstrengend. Ich frage mich, was aus meinen SchülerInnen in der Wirtschaft 4.0 mal werden soll? Frustrierte Wähler wahrscheinlich...
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DrFreeze
16.02.2020 16:13registriert November 2018
Ein guter Spickzettel ist wie eine gute Zusammenfassung. Einmal erstellt braucht man ihn eigentlich an der Prüfung gar nicht mehr. Mir ist s in jedem Fall so ergangen.
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fant
16.02.2020 15:17registriert Oktober 2015
"Dass smarte Programme in naher Zukunft fast fehlerfrei alles korrigieren werden, ..., ist keine gewagte Prognose."

Doch: als Informatiker und Grammar-Nazi muss ich hier widersprechen, ich halte das für ziemlich naiv. Der heutige AI-Hype ist leider nur ein Hype. Natürlich ist es eine Leistung, dass ca 20 Jahre, nachdem der Schachcomputer besser als der Mensch wurde, dasselbe auch mit Go gelang.

Aber bei Orthographie geht es oft um die "real world knowledge" - ohne den Sinn zu verstehen, kann man oft nicht korrigieren. Und darin sind Computer sackschwach wie eh und je...
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