An einem Mittwoch im November 2017 tritt Nicolas (Name geändert) freiwillig in die Suchtklinik der Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) ein. Er will von den Drogen wegkommen. Es ist nicht sein erster Versuch. Am Sonntag darauf ist Nicolas tot. Ein Pfleger findet ihn bei der Morgenkontrolle.
Die Staatsanwaltschaft eröffnet – wie bei solchen aussergewöhnlichen Todesfällen üblich – ein Vorverfahren. Sie muss klären, woran Nicolas gestorben ist und ob jemand für seinen Tod mitverantwortlich ist. Die Akten füllen einen Ordner. Nicolas’ Mutter hat sie der Aargauer Zeitung zur Verfügung gestellt.
Die Unterlagen zeigen, dass die ersten Tage der Behandlung ohne Komplikationen verlaufen. Am Samstagmittag – gut zwei Stunden nachdem Nicolas in der Klinik 50 mg Methadon und 5 mg Diazepam erhalten hat – muss er notfallmässig ins Kantonsspital Baden verlegt werden. Die Symptome deuten auf eine Überdosis hin.
Während Nicolas im Spital ist, wird in Königsfelden sein Zimmer durchsucht. Im Schrank werden Spritzen, Löffel und Tupfer gefunden. Später gibt Nicolas zu, dass er am Vortag in der Klinik Kokain konsumiert hat.
Bereits am Samstagabend wird er aus dem Spital entlassen und kommt zurück nach Königsfelden in ein Einzelzimmer. Sein Zustand ist stabil. In der Nacht kümmert sich ein Pfleger um die Patientinnen und Patienten auf der Station.
Kurz vor Mitternacht und um 1.30 Uhr kontrolliert er Nicolas’ Blutdruck und Puls. Die Werte seien absolut unauffällig gewesen, gibt er später zu Protokoll. Bei der nächsten Sichtkontrolle um 5 Uhr habe Nicolas geschlafen. Um 7 Uhr ist er tot.
Das Institut für Rechtsmedizin untersucht den Körper des Toten. Die Mediziner können ausschliessen, dass Nicolas seit dem Austritt aus dem Spital Kokain oder Valium konsumiert hat. Die Werte im Blut sind tiefer als jene, die im Spital gemessen wurden.
Anders sieht es beim Methadon aus. Die Konzentration im Blut des Toten ist höher als zuvor im Spital. Die Rechtsmediziner können sich nicht erklären, «wie es ohne weitere Zufuhr von Methadon, die gemäss Krankenunterlagen nicht stattgefunden hatte, zu einer tödlichen Methadonwirkung kommen konnte».
Es müsse deshalb angenommen werden, dass Nicolas kurz vor seinem Tod noch selbstständig und ohne ärztliche Rücksprache Methadon eingenommen und dadurch eine tödliche Überdosis erlitten hatte.
Die Staatsanwaltschaft argumentiert gleich. Sie hat das Vorverfahren eingestellt. Es könne ausgeschlossen werden, dass die Methadonabgabe durch die Klinik für den Tod verantwortlich war. Weiter bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass mangelhafte Kontrollen schuld an Nicolas’ Tod seien beziehungsweise stündliche Kontrollen seinen Tod verhindert hätten.
«Vielmehr konnte der Tod innert weniger als einer Stunde, ja innert weniger Minuten eintreten, sodass auch eine stündliche Kontrolle den Tod nicht verhindert hätte», heisst es in der Einstellungsverfügung.
Dazu komme, dass in der Nacht, in der Nicolas starb, niemand von einer Lebensgefahr ausgehen musste. Die mangelnde Kontrolle alleine erscheine deshalb auch nicht als strafrechtlich relevante Pflichtverletzung. Den PDAG könne kein Vorwurf gemacht werden.
Damit ist der Fall juristisch abgeschlossen. Trotzdem stellt sich vor allem eine Frage: Wie ist Nicolas selbstständig an die tödliche Dosis Methadon gekommen? Die PDAG können sich nicht zu konkreten Fällen äussern, da sie aufgrund des ärztlichen Berufsgeheimnisses keine Auskunft über Patienten an Dritte geben dürfen.
Das Berufsgeheimnis gelte über den Tod hinaus und diene dem Schutz der Patienten. Patrik Roser, Chefarzt und Leiter des Zentrums für Abhängigkeitserkrankungen der PDAG, nimmt allgemein Stellung. Er sagt, dass Methadon und andere Betäubungsmittel «gemäss den gesetzlichen Vorgaben in speziell gesicherten und verschliessbaren Medikamententresoren» aufbewahrt werden.
Unbefugte hätten zu diesen Tresoren grundsätzlich keinen Zugang. «Insofern ist es ausgeschlossen, dass Patientinnen und Patienten selbstständig zu Methadon und anderen Betäubungsmitteln aus Beständen der Klinik kommen.»
Das Medikament werde im stationären Rahmen in der Regel in flüssiger Form vom Fachpersonal persönlich abgegeben und unter Sichtkontrolle eingenommen. «Dadurch wird das Horten und heimliche Deponieren von Methadon verhindert», erklärt Roser.
Konsum, Besitz oder Handel von Drogen sind in der Klinik verboten und werden nicht toleriert. Trotzdem sei es nicht möglich, einen heimlichen Konsum ganz zu verhindern, sagt Roser. Würden Besitz, Konsum oder Handel mit Drogen in der Klinik festgestellt, führe das zur sofortigen Entlassung. Zudem werde eine zeitlich befristete Wiederaufnahmesperre verhängt, sofern eine solche medizinisch vertretbar sei.
Roser betont, dass Freiwilligkeit und Veränderungsmotivation der Patientinnen und Patienten für eine erfolgreiche Behandlung wichtig seien. Unterbringungen in geschlossenen Stationen würden deshalb vermieden, wenn keine unmittelbare Eigen- oder Fremdgefährdung bestehe.
Auch der zuständige Staatsanwalt Christoph Rüedi weist auf Anfrage der AZ darauf hin, dass sich Nicolas im freiwilligen Drogenentzug befunden habe. «Entsprechend unterstand er geringeren Kontrollen und verfügte über wesentlich mehr Bewegungsfreiheiten als andere Patienten, die sich zum Beispiel aufgrund einer gerichtlichen Anordnung gegen ihren Willen in einer Suchtklinik aufhalten.»
Trotzdem will Rüedi nach Abschluss des Verfahrens das Gespräch mit der Klinikleitung suchen, um «Ungereimtheiten zu besprechen». Das geht aus einem Schreiben an den Anwalt von Nicolas’ Eltern hervor. Für den Staatsanwalt ist nicht nachvollziehbar, dass das Klinikpersonal angeblich aus Zeitmangel die verordneten Nachtkontrollen nicht durchführt.
Weiter erachtet er die verabreichte Dosis Methadon aufgrund der Ausführungen der befragten Experten als zu hoch. Es erscheint ihm zudem erforderlich, dass besser kontrolliert wird, dass keine Drogen auf die Station gelangen.
Rüedi sagt, die Staatsanwaltschaft sehe sich grundsätzlich angehalten, andere Behörden oder Institutionen über ihre Erkenntnisse zu verbesserungsfähigen Abläufen zu informieren. «Das gilt auch dann, wenn diesen Erkenntnissen keine strafrechtliche Relevanz zukommt, wie dies vorliegend der Fall war.» (aargauerzeitung.ch)