Die russische Überfall auf die Ukraine hat in Europa Dinge ermöglicht, die zuvor undenkbar schienen. Die Europäische Union verhängte innerhalb weniger Tage scharfe Sanktionen, die auch die Zivilbevölkerung treffen. Deutschland will die ausgezehrte Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aufrüsten. Auch in der Schweiz gerät gerade einiges in Bewegung.
Nach anfänglichem Zögern beschloss der Bundesrat, die EU-Sanktionen vollumfänglich zu übernehmen. Damit hat er nicht nur aus russischer Sicht gegen die Neutralität verstossen. Für alt Bundesrat Christoph Blocher ist die Schweiz zur Kriegspartei geworden, was Bundespräsident Ignazio Cassis am Montag in der Fragestunde des Nationalrats zurückwies.
«Die Schweiz ist nicht im Krieg mit Russland», erklärte der Aussenminister. Auch eine solche Aussage aus dem Mund eines Bundesrats hätte man sich bis vor Kurzem nicht vorstellen können. Die letzten Tage haben gezeigt, dass der Ukraine-Krieg nicht nur unsere «heiligste Kuh» Neutralität herausfordert, sondern auch politische Tabus purzeln lässt.
Einen speziellen Tabubruch leistete sich Verteidigungsministerin Viola Amherd. Letzte Woche appellierte sie im Westschweizer Fernsehen an die Gegner des F-35, die Volksinitiative zurückzuziehen, mit der sie den Kauf des US-Kampfjets verhindern wollen. Hinter der Initiative stehen SP, Grüne und die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA).
Mitglieder der Landesregierung äussern sich in der Regel zurückhaltend zum Rückzug von Volksinitiativen. Und im konkreten Fall wurde sie noch gar nicht eingereicht. Von der NZZ befragte Politologen bezeichneten Amherds Vorpreschen als «präzedenzlos», «in dieser Form wohl noch nie geschehen» und meinten, das gehe «staatspolitisch überhaupt nicht».
Im Interview mit der «Sonntagszeitung» wehrte sich Viola Amherd gegen die Vorwürfe. Sie habe die Initianten «eingeladen, den Rückzug der Initiative in Erwägung zu ziehen». Diese wollen jetzt erst recht daran festhalten. Zwar gibt es Ungereimtheiten um den F-35, doch die Erfolgschance der Initiative sinkt mit dem Krieg in Osteuropa Richtung Nullpunkt.
Im Parlament will man nicht erst auf die Abstimmung warten (sie dürfte 2023 stattfinden), sondern den Kaufvertrag noch in diesem Jahr unterzeichnen. «Wir müssen jetzt handeln», sagte FDP-Präsident Thierry Burkart der «NZZ am Sonntag». Er begründete dies mit der auslaufenden Offerte von Hersteller Lockheed Martin. Dennoch ist auch dies ein Tabubruch.
Was der Bundeswehr recht ist, sollte der Schweizer Armee billig – oder vielmehr teuer – sein. Das meint zumindest die Gruppe Giardino, die sich «für den Wiederaufbau einer glaubwürdigen Milizarmee» einsetzt. Sie wittert mit dem Ukraine-Krieg Morgenluft und hat eine Wunschliste zusammengestellt, die sich liest wie ein «Zurück zum Kalten Krieg».
So soll der Armeebestand von 100’000 auf 300’000 Wehrpflichtige verdreifacht werden. Das Militärbudget soll auf das Nato-Ziel von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ansteigen, was 14 Milliarden Franken pro Jahr entspräche. Nicht erwähnt werden Cyberkriege, obwohl sie für die Schweiz eine weit realere Bedrohung darstellen als der Angriff einer Panzerarmee.
Geradezu «pazifistisch» wirken daneben die Forderungen von SVP und FDP. Sie wollen zusätzlich 20’000 Armeeangehörige und ein Budget von sieben statt fünf Milliarden Franken. Für Bundesrätin Amherd ist dies «längerfristig» eine Option. Es bringe aber wenig, das Budget von heute auf morgen so stark zu erhöhen, sagte sie der «Sonntagszeitung».
Der Ukraine-Krieg bringt auch Bewegung in die Kandidatur der Schweiz für einen nichtständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat für die Jahre 2023 und 2024. Die Wahl findet im Juni statt und dürfte beim heutigen Stand Formsache sein. Für die beiden der westlichen Staatengemeinschaft zustehenden Sitze bewerben sich nur die Schweiz und Malta.
Die SVP aber will die Kandidatur auf der Zielgeraden stoppen. Sie hat im Parlament mehrere Vorstösse eingereicht und eine ausserordentliche Session durchgesetzt, die am Donnerstag im Nationalrat stattfinden wird. Durch den Ukraine-Krieg fühlt sich die Volkspartei bestätigt, doch es ist unwahrscheinlich, dass sie die Schweizer Bewerbung noch verhindern kann.
Obwohl auch andere Bürgerliche Vorbehalte haben – vor allem in der Mitte-Partei mit ihrer immer noch starken Verankerung im ländlich-konservativen Raum –, wird sich nach den Querelen um die Russland-Sanktionen die Lust in Grenzen halten, die Schweiz mit einem Last-Minute-Rückzug einem möglichen Reputationsschaden auszusetzen.
Die Schweiz könne «ihre Neutralität im Sicherheitsrat unverändert und vollumfänglich ausüben», sagte Bundespräsident Cassis am Montag in der Fragestunde. Unser ebenfalls neutraler Nachbar Österreich dient als Vorbild. Er war schon dreimal im Uno-Sicherheitsrat vertreten und hat eine weitere Kandidatur für die Amtsperiode 2027/28 angekündigt.
In Österreich wird seit Kriegsausbruch über ein weiteres Tabuthema debattiert: einen Beitritt zur Nato. Bundeskanzler Karl Nehammer erteilte solchen Spekulationen am Montag bei einem Besuch in Katar eine klare Absage. Bei uns findet diese Debatte höchstens in Ansätzen statt, denn der Nato-Beitritt ist ein noch grösseres Tabu als die EU-Mitgliedschaft.
Weder Linke noch Rechte können sich aus unterschiedlichen Gründen mit der Idee anfreunden, obwohl die Schweiz seit Jahrzehnten vom militärischen Schutzschirm der nordatlantischen Allianz profitiert und die Zusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten vertieft hat, mit der Partnerschaft für den Frieden oder im Bereich der Luftverteidigung.
Für Viola Amherd ist der Nato-Beitritt keine Option, wie sie der «Sonntagszeitung» sagte. Die Schweiz könne sich «nicht einfach als Trittbrettfahrer auf andere verlassen». Dabei umschreibt genau dies die heutige Haltung der Schweiz zur Nato. Vielleicht bieten der Krieg und die F-35-Initiative die Gelegenheit, dies zu vertiefen und ein weiteres Tabu zu brechen.
Dass die alten kalten Krieger ihre Wunschlisten hinter dem Ofen hervorholen konnte man auch erwarten. Allerdings hat unsere Armee zuallerst ein Organisationsproblem, welches mit zusätzlichem Geld noch nicht behoben ist. So interpretiere ich auch die Aussage von unserer Veteidungsministerin.