In der Ukraine findet die dritte Kriegsweihnacht statt. Es sind trübe Zeiten, nicht nur, weil Russland auf dem Schlachtfeld langsam, aber stetig vorrückt. Seit Monaten greift der Aggressor gezielt die Energie- und Wärmeinfrastruktur des Landes an. Die Ukrainer sollen einen kalten und dunklen Winter verbringen und zermürbt werden.
Deren Antwort ist unmissverständlich: Sie haben das Weihnachtsfest vom orthodoxen 6. Januar auf den «westlichen» 25. Dezember verlegt. Damit signalisieren sie, wo sie ihre Zukunft sehen: in der Europäischen Union. Gleiches gilt für die vielen Menschen in Georgien, die gegen eine Regierung protestieren, die ihr Land in die Arme Moskaus führen will.
Für viele Ukrainer und Georgier ist die EU eine Art «gelobtes Land» und kein übergriffiges «Bürokratiemonster», wie viele in der behaglichen Schweiz lästern. Der Auftritt von SVP-Präsident Marcel Dettling mit Hellebarde am letzten Freitag vor dem Bundeshaus war vor dem Hintergrund des realen Ukrainekriegs einfach nur empörend.
Am selben Tag hatte der Bundesrat das neue Vertragspaket mit der EU abgesegnet, mit dem der bilaterale Weg nach monatelangen Verhandlungen konsolidiert und ausgebaut werden soll. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste eigens nach Bern, um mit Bundespräsidentin Viola Amherd das «historische Abkommen» zu würdigen.
Die Reaktionen im Inland aber waren, nun ja, durchzogen. SP, FDP und Mitte, die Parteien der traditionellen «Europa-Allianz», senden gemischte Signale aus. Die «Kompass»-Milliardäre aus Zug pöbeln gegen das Vertragspaket, und die Gewerkschaften lassen ihr übliches und absehbares Lamento über die angebliche Schwächung des Lohnschutzes vernehmen.
Bereits ist die Rede davon, die Volksabstimmung erst nach den nächsten eidgenössischen Wahlen durchzuführen, also 2028. Darüber sind nicht nur EU-Vertreter und proeuropäische Politiker irritiert. Von einer solchen Verzögerungstaktik können nur die Gegner profitieren, die hinreichend Zeit erhalten, das neue Vertragspaket «sturmreif» zu schiessen.
Was genau in den Verträgen steht, ist noch unklar. Sie liegen erst auf Englisch vor und werden von Chefunterhändler Patric Franzen unter Verschluss gehalten. Sie werden jetzt in die drei Amtssprachen übersetzt und bis nächsten Sommer in die Vernehmlassung geschickt. Die Eckwerte wurden am Freitag präsentiert und am Montag in einem Mediengespräch vertieft.
Eine intensive Debatte dürfte sich neben den Kohäsionszahlungen und dem neuen Stromabkommen um die Schutzklausel gegen eine zu starke Zuwanderung entwickeln. Ein grosser Teil des – vertraulichen – Gesprächs am Montag war diesem Thema gewidmet. Alles hat die Schweiz nicht erhalten, denn die Personenfreizügigkeit ist ein Grundpfeiler der EU.
Grundsätzlich darf die Schweiz die Freizügigkeit jedoch einschränken, wenn sie zu «serious economic difficulties» führt. Was dies konkret bedeutet, könnte zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen werden. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Schweiz die neue Schutzklausel ähnlich häufig aktivieren wird wie die schon bestehende: also niemals.
Ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten kann sie nur geltend machen, wenn sie sich selbst ins Elend reitet, etwa wenn die Mega-UBS kollabiert und die Wirtschaft mit in den Abgrund reisst. Ansonsten wird der Bedarf an Arbeitskräften hoch bleiben, wegen der Demografie. Und für überfüllte Züge und hohe Mieten kann man nicht die EU verantwortlich machen.
Ist die Schutzklausel somit ein «Ablenkungsmanöver» für die Galerie? Sie macht durchaus Sinn, kann sie doch als Gegenkonzept zur SVP-Initiative gegen die «10-Millionen-Schweiz» ins Feld geführt werden, über die vermutlich zuerst abgestimmt wird. Der Bund kann zeigen, dass die Schweiz die Zuwanderung einschränken darf, sogar mit dem Segen aus Brüssel.
Überhaupt haben die Schweiz und Chefunterhändler Franzen gegenüber dem vor drei Jahren vom Bundesrat beerdigten Rahmenabkommen überraschend viel herausgeholt. Die EU hat einige Zugeständnisse gemacht. Hat der Ukraine-Krieg sie gegenüber Drittstaaten nachgiebiger gemacht? Ein Insider winkt ab: Die Verhandlungen seien «pickelhart» gewesen.
Das mag sein, doch wenn man die Mechanik in Brüssel einigermassen kennt, lässt sich diese Vermutung nicht von der Hand weisen. Die EU könnte beitrittswilligen Ländern den bilateralen Weg als «Übergangslösung» schmackhaft machen. Das gilt für die Staaten des Westbalkans und besonders für Georgien, Moldau und Ukraine, die lieber gestern als heute beitreten würden.
Gerade diese drei Staaten sind jedoch ein schwieriger Fall für die EU, denn Teile ihres Territoriums sind faktisch von Russland kontrolliert, teilweise über Marionettenregimes. Mit bilateralen Verträgen nach Schweizer Vorbild könnte man ihnen zumindest eine Brücke Richtung EU bauen. Vorerst ist dies reine Spekulation, aber es wäre eine Option.
Echte Sicherheit aber bietet ihnen nur die Vollmitgliedschaft, gerade den Ukrainern in ihrer traurigen dritten Kriegsweihnacht. Wir wohlstandsverwöhnten Schweizer tun gut daran, die Stabilität zu würdigen und zu schätzen, die uns die Europäische Union (und die NATO, aber das ist eine «Baustelle» für sich) bietet, allen gegenwärtigen Problemen zum Trotz.
Die politischen Turbulenzen in Deutschland und Frankreich dürfen uns nicht davon ablenken, dass wir die EU mehr brauchen als sie uns. Damit lassen sich der Nihilismus der SVP, die selbstgerechte Arroganz der «Kompass»-Milliardäre und das trübe Machtspiel der Gewerkschaften kontern. Gerade letztere haben mit den flankierenden Massnahmen auch viel zu verlieren.
Immer wieder wurde in letzter Zeit lamentiert, die EU-Befürworter hätten den Gegnern mehr oder weniger kampflos das Feld überlassen. Jetzt liegt das Verhandlungsergebnis vor, und es verdient eine seriöse Auseinandersetzung mit Respekt vor dem Vertragspartner. Wer sich dem verschliesst, dem kann man nur empfehlen: Schau auf die Ukraine!