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Analyse

Warum die EU für die Schweiz überlebenswichtig bleibt

epa11779308 Members of Plast, the Ukraine national scout organization, attend the ceremony of transferring the Peace Light of Bethlehem at the central railway station in Kyiv, Ukraine, 15 December 202 ...
Ukrainische Pfadis signalisieren mit dem Friedenslicht aus Bethlehem die Hoffnung auf ein Ende des Krieges.Bild: keystone
Analyse

Warum brauchen wir die EU? Schaut auf die ukrainische Kriegsweihnacht!

Die Debatte über das EU-Vertragspaket ist angelaufen. Die Gegner greifen zu grobem Geschütz. Dabei zeigt der reale Krieg in der Ukraine, wie wichtig die EU auch für uns ist.
25.12.2024, 13:30
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In der Ukraine findet die dritte Kriegsweihnacht statt. Es sind trübe Zeiten, nicht nur, weil Russland auf dem Schlachtfeld langsam, aber stetig vorrückt. Seit Monaten greift der Aggressor gezielt die Energie- und Wärmeinfrastruktur des Landes an. Die Ukrainer sollen einen kalten und dunklen Winter verbringen und zermürbt werden.

Deren Antwort ist unmissverständlich: Sie haben das Weihnachtsfest vom orthodoxen 6. Januar auf den «westlichen» 25. Dezember verlegt. Damit signalisieren sie, wo sie ihre Zukunft sehen: in der Europäischen Union. Gleiches gilt für die vielen Menschen in Georgien, die gegen eine Regierung protestieren, die ihr Land in die Arme Moskaus führen will.

EU-Mahnwache mit Hellebarde

Video: ch media/Matthias Steimer

Für viele Ukrainer und Georgier ist die EU eine Art «gelobtes Land» und kein übergriffiges «Bürokratiemonster», wie viele in der behaglichen Schweiz lästern. Der Auftritt von SVP-Präsident Marcel Dettling mit Hellebarde am letzten Freitag vor dem Bundeshaus war vor dem Hintergrund des realen Ukrainekriegs einfach nur empörend.

Durchzogene Reaktionen

Am selben Tag hatte der Bundesrat das neue Vertragspaket mit der EU abgesegnet, mit dem der bilaterale Weg nach monatelangen Verhandlungen konsolidiert und ausgebaut werden soll. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste eigens nach Bern, um mit Bundespräsidentin Viola Amherd das «historische Abkommen» zu würdigen.

Die Reaktionen im Inland aber waren, nun ja, durchzogen. SP, FDP und Mitte, die Parteien der traditionellen «Europa-Allianz», senden gemischte Signale aus. Die «Kompass»-Milliardäre aus Zug pöbeln gegen das Vertragspaket, und die Gewerkschaften lassen ihr übliches und absehbares Lamento über die angebliche Schwächung des Lohnschutzes vernehmen.

Abstimmung erst 2028?

Bereits ist die Rede davon, die Volksabstimmung erst nach den nächsten eidgenössischen Wahlen durchzuführen, also 2028. Darüber sind nicht nur EU-Vertreter und proeuropäische Politiker irritiert. Von einer solchen Verzögerungstaktik können nur die Gegner profitieren, die hinreichend Zeit erhalten, das neue Vertragspaket «sturmreif» zu schiessen.

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Betont herzlich: Viola Amherd und Ursula von der Leyen am letzten Freitag in Bern.Bild: keystone

Was genau in den Verträgen steht, ist noch unklar. Sie liegen erst auf Englisch vor und werden von Chefunterhändler Patric Franzen unter Verschluss gehalten. Sie werden jetzt in die drei Amtssprachen übersetzt und bis nächsten Sommer in die Vernehmlassung geschickt. Die Eckwerte wurden am Freitag präsentiert und am Montag in einem Mediengespräch vertieft.

Was bringt die Schutzklausel?

Eine intensive Debatte dürfte sich neben den Kohäsionszahlungen und dem neuen Stromabkommen um die Schutzklausel gegen eine zu starke Zuwanderung entwickeln. Ein grosser Teil des – vertraulichen – Gesprächs am Montag war diesem Thema gewidmet. Alles hat die Schweiz nicht erhalten, denn die Personenfreizügigkeit ist ein Grundpfeiler der EU.

Grundsätzlich darf die Schweiz die Freizügigkeit jedoch einschränken, wenn sie zu «serious economic difficulties» führt. Was dies konkret bedeutet, könnte zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen werden. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Schweiz die neue Schutzklausel ähnlich häufig aktivieren wird wie die schon bestehende: also niemals.

Gegenkonzept zur SVP-Initiative

Ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten kann sie nur geltend machen, wenn sie sich selbst ins Elend reitet, etwa wenn die Mega-UBS kollabiert und die Wirtschaft mit in den Abgrund reisst. Ansonsten wird der Bedarf an Arbeitskräften hoch bleiben, wegen der Demografie. Und für überfüllte Züge und hohe Mieten kann man nicht die EU verantwortlich machen.

Patrick Franzen, Deputy State Secretary for Foreign Affairs, Swiss Head Negotiator, FDFA, speaks front of Alexandre Fasel, State Secretary for Foreign Affairs, Federal Department of Foreign Affairs (F ...
Chefunterhändler Patric Franzen hat einiges erreicht.Bild: keystone

Ist die Schutzklausel somit ein «Ablenkungsmanöver» für die Galerie? Sie macht durchaus Sinn, kann sie doch als Gegenkonzept zur SVP-Initiative gegen die «10-Millionen-Schweiz» ins Feld geführt werden, über die vermutlich zuerst abgestimmt wird. Der Bund kann zeigen, dass die Schweiz die Zuwanderung einschränken darf, sogar mit dem Segen aus Brüssel.

Überraschend viel herausgeholt

Überhaupt haben die Schweiz und Chefunterhändler Franzen gegenüber dem vor drei Jahren vom Bundesrat beerdigten Rahmenabkommen überraschend viel herausgeholt. Die EU hat einige Zugeständnisse gemacht. Hat der Ukraine-Krieg sie gegenüber Drittstaaten nachgiebiger gemacht? Ein Insider winkt ab: Die Verhandlungen seien «pickelhart» gewesen.

Das mag sein, doch wenn man die Mechanik in Brüssel einigermassen kennt, lässt sich diese Vermutung nicht von der Hand weisen. Die EU könnte beitrittswilligen Ländern den bilateralen Weg als «Übergangslösung» schmackhaft machen. Das gilt für die Staaten des Westbalkans und besonders für Georgien, Moldau und Ukraine, die lieber gestern als heute beitreten würden.

Stabilität dank EU (und NATO)

Gerade diese drei Staaten sind jedoch ein schwieriger Fall für die EU, denn Teile ihres Territoriums sind faktisch von Russland kontrolliert, teilweise über Marionettenregimes. Mit bilateralen Verträgen nach Schweizer Vorbild könnte man ihnen zumindest eine Brücke Richtung EU bauen. Vorerst ist dies reine Spekulation, aber es wäre eine Option.

Echte Sicherheit aber bietet ihnen nur die Vollmitgliedschaft, gerade den Ukrainern in ihrer traurigen dritten Kriegsweihnacht. Wir wohlstandsverwöhnten Schweizer tun gut daran, die Stabilität zu würdigen und zu schätzen, die uns die Europäische Union (und die NATO, aber das ist eine «Baustelle» für sich) bietet, allen gegenwärtigen Problemen zum Trotz.

Wer braucht eigentlich wen?

Die politischen Turbulenzen in Deutschland und Frankreich dürfen uns nicht davon ablenken, dass wir die EU mehr brauchen als sie uns. Damit lassen sich der Nihilismus der SVP, die selbstgerechte Arroganz der «Kompass»-Milliardäre und das trübe Machtspiel der Gewerkschaften kontern. Gerade letztere haben mit den flankierenden Massnahmen auch viel zu verlieren.

Immer wieder wurde in letzter Zeit lamentiert, die EU-Befürworter hätten den Gegnern mehr oder weniger kampflos das Feld überlassen. Jetzt liegt das Verhandlungsergebnis vor, und es verdient eine seriöse Auseinandersetzung mit Respekt vor dem Vertragspartner. Wer sich dem verschliesst, dem kann man nur empfehlen: Schau auf die Ukraine!

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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
Ukrainische Soldaten begraben kurz nach Weihnachten 2023 ihren Kameraden Vasyl Boichuk im Dorf Iltsi.
quelle: keystone / evgeniy maloletka
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Strassenkampf, Feuerwerk-Minigun und Bandauftritt – Videos zeigen die Proteste in Georgien
Video: watson
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290 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Sonichu
25.12.2024 14:39registriert Dezember 2022
Die EU ist was die Integration angeht in einem seltsamen Zustand. Man hat zum Beispiel einheitliche Regelungen bei Pet Flaschen Deckeln, aber keine gemeinsame Sicherheitspolitik. Dadurch ist die Bürokratie für die Nationalstaaten hoch, aber die Verhandlungsmacht gegenüber anderen Grossmächten klein, weil alle immer ausscheren. Keinem Land würde es in den Sinn kommen bei einen Streit mit den USA durch die Hintertür direkt mit Texas oder Kalifornien zu verhandeln, bei der EU passiert sowas ständig, weil man die falschen Bereiche nach Brüssel verlagert hat und sich nicht einig ist.
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Schuhmeister Flaig
25.12.2024 14:26registriert November 2014
Der Ukrainekrieg hat die Haltung der EU gegenüber der Schweiz nicht beeinflusst, weil das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Die Nato ist keine Baustelle für sich, sondern der Grund weshalb Putin die EU nicht angreift.
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Kaoro
25.12.2024 17:21registriert April 2018
Die Schweiz könnte den Weg von Liechtenstein gehen. Beitritt zum EWR und die eigene Währung beibehalten. Mit dem Vertragswerk sind wir vermutlich nicht mehr weit bis zum EWR.
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