Die Schweiz hat einer Frau nicht ausreichenden Schutz gegen ihren in der Vergangenheit gewalttätigen Partner gegeben. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. Die Betroffene wusste nichts von den früheren Gewalttaten ihres Partners.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hält in seinem am Donnerstag publizierten Entscheid fest, dass die Behörden in ihrer Gesamtheit nicht die notwendigen Schritte unternommen hätten, um die Frau über die Gefahr zu informieren und sie zu schützen. Damit habe die Schweiz das in der Menschenrechtskonvention verankerte Recht auf Leben verletzt.
Der Partner der Beschwerdeführerin war 1995 wegen Vergewaltigung und Tötung seiner damaligen Partnerin verurteilt worden. Fünf Jahre nach seiner Freilassung 2001 wurde er festgenommen, weil er seine neue Freundin bedrohte und mit Telefonanrufen belästigte.
Ein psychiatrisches Gutachten ergab, dass er nicht in der Lage sei, in schwierigen Situationen adäquat zu handeln. Es sei mit Drohungen, aber auch physischer Gewalt namentlich gegenüber jenen Personen zu rechnen, mit denen er eine intime Beziehung pflege. Dies geht aus dem Entscheid des EGMR hervor.
Daraufhin lernte der Mann die Beschwerdeführerin kennen. Sie wusste nichts von seiner Vergangenheit und den Verurteilungen. Als Probleme in der Beziehung auftraten, kontaktierte sie 2007 den Hausarzt ihres Partners, um die Situation nachvollziehen zu können. Der Arzt empfahl ihr, die Beziehung zu beenden. Details nannte er ihr keine, informierte jedoch die Polizei.
Diese unternahm keine offiziellen Schritte. Lediglich ein Polizist drängte die Frau auf eigene Initiative hin, ihren Partner zu verlassen, weil er gefährlich sei. Er nannte ihr jedoch keine Einzelheiten zu dessen Vergangenheit, und er hatte keine Kenntnis über den Inhalt des psychiatrischen Gutachtens.
Weiter wurde der Frau, die für ihre Beziehung keine Zukunft sah, empfohlen, Anzeige zu erstatten. Dies tat sie nicht. Als sie ihrem Partner mitteilte, dass sie sich trennen wolle, verschaffte sich dieser Zugang zu ihrer Wohnung. Er versuchte die Frau in der Garage zu ersticken, was nicht gelang, vergewaltigte sie, schoss ihr mit einer Armbrust dreimal in den Rücken und steckte sie schliesslich gefesselt in den Kofferraum seines Autos.
So fuhr er mehrere Stunden herum, und brachte die Frau in seine Wohnung, wo er sie mit einem Messer bedrohte. Elf Stunden nach Beginn des Martyriums rief er seinen Psychologen an, der mit einer Ambulanz zur Wohnung des Gewalttätigen kam. Zwei Tage nach seiner Festnahme beging der Mann Suizid.
Eine 2014 eingereichte Staatshaftungsklage der Frau wies die Luzerner Justiz und anschliessend auch das Bundesgericht ab. Es bestätigte, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen dem Rat des Polizisten sich zu trennen und der Entführung, Vergewaltigung und Misshandlung der Frau gebe.
Der EGMR ist hingegen der Ansicht, dass die Behörden ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen seien. Ab dem Telefonanruf des Arztes an die Polizei hätten sie in ihrer Gesamtheit Kenntnis von der reellen Gefahr gehabt, die vom Partner der Frau ausging. Der eine Polizist habe, soweit es für ihn möglich gewesen sei, sein Möglichstes getan und die Frau telefonisch gewarnt.
Allerdings seien anschliessend keine koordinierten Schritte unternommen worden, wie sie in der vorliegenden Situation notwendig gewesen wären. Die Behörden hätten über das gesamte notwendige Wissen verfügt und wären deshalb gehalten gewesen, die notwendige Vorsicht walten zu lassen.
(Entscheid Nummer 56114/18)
(sda/les)