Der «Blick» hatte eine famose Idee. Er veranstaltete ein Streitgespräch zur Schweizer Neutralität zwischen alt Bundesrat Christoph Blocher (pro, pro und nochmals pro) und Mitte-Präsident Gerhard Pfister (nicht mehr ganz so eindeutig pro). Denn seit Beginn des Ukraine-Kriegs finden viele in Europa und den USA unsere Neutralität eher fragwürdig.
Allerdings hätte sich das Boulevardblatt den Aufwand (und die Druckerschwärze) sparen können. Denn es blieb beim oberflächlichen Austausch von Argumenten. Der beste Spruch gelang Blocher, als er befand, Aussenminister Ignazio Cassis hätte den US-Botschafter Scott Miller («überheblich und frech!») nach seinem NZZ-Interview «sofort zitieren müssen».
Im Weltbild des SVP-Vordenkers muss der Bundesrat dem US-Vertreter in Bern wegen seiner Forderung, die Weitergabe von Waffen an die Ukraine zu ermöglichen, eine diplomatische Abreibung verpassen. Den russischen Botschafter wegen des Angriffskriegs seines Landes zu zitieren aber, kommt natürlich nicht infrage – wir sind schliesslich neutral!
Der fehlende Tiefgang des «Streitgesprächs» liegt auch an der Fragestellung. Denn die drei «Blick»-Interviewer haben es versäumt, zum eigentlichen Kern des Problems vorzudringen:
Man kann es nachvollziehen, denn solche Fragen gelten hierzulande als Blasphemie. Die bewaffnete Neutralität erfreut sich in Umfragen einer Zustimmung von «nordkoreanischem» Ausmass. Sie gilt als Garantin dafür, dass kriegführende Mächte uns seit 200 Jahren verschont haben. Selbst den Wohlstand führen wir teilweise auf die Neutralität zurück.
Dabei wird verdrängt, dass Neutralität kein Selbstzweck ist, sondern ein «Mittel zum Zweck», wie es das Aussendepartement EDA selbst definiert. Und der Bundesrat sie schon früher flexibel angewendet hatte, etwa im Zweiten Weltkrieg gegenüber den Nazis. Wir arrangierten uns mit ihnen und überliessen es anderen, sie zu bekämpfen und zu besiegen.
Heute befinden wir uns bei den Waffen und Munition für die Ukraine in einer ähnlichen, wenn auch weniger dramatischen Lage. Aber für damals wie heute gilt die Feststellung eines Lesers der «New York Times»:
Das bundesrätliche Verständnis von Neutralität basiert auf dem Haager Abkommen von 1907. Doch das war eine andere Welt. Die europäischen Grossmächte wollten von neutralen Staaten im Kriegsfall gleichwertig behandelt werden. Und Krieg war gemäss der Definition des preussischen Strategen Clausewitz «die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln».
Seit der Katastrophe der beiden Weltkriege aber sind Angriffskriege geächtet, in der Charta der Vereinten Nationen, denen die Schweiz 2002 beigetreten ist. Es erstaunt daher nicht, dass sich die demokratischen Länder seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs schwertun mit dem reaktionären Schweizer Neutralitätsbegriff. Das EDA hat das Problem erkannt.
So steht es in einem vertraulichen Bericht vom letzten Herbst, aus dem «CH Media» zitiert hat und mit dem Ignazio Cassis dem Gesamtbundesrat sein Konzept einer «kooperativen Neutralität» schmackhaft machen wollte. Er kam damit nicht durch. Der Bundesrat beharrte auf dem rückwärtsgewandten, letztmals 1993 definierten Verständnis von Neutralität.
Damit aber macht er das Land angreifbar. «Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat in Europa das Verständnis gegenüber der Schweizer Neutralität abgenommen», heisst es im EDA-Bericht. Jacques Pitteloud, der Schweizer Botschafter in Washington, warnte kürzlich am Rande eines Empfangs, dass es in den bilateralen Beziehungen «knistert».
Es geht dabei nicht nur um die Weitergabe von Waffen, für die das Kriegsmaterialgesetz ein mindestens so grosser Stolperstein ist wie das Neutralitätsrecht. Gerade aus den USA wird der Schweiz vorgeworfen, sie verwende die Neutralität als Vorwand, um «die wirtschaftlichen Interessen voranzubringen», wie es im EDA-Bericht ebenfalls heisst.
Das bekam die Schweiz im Konflikt um das Bankgeheimnis zu spüren. Während Jahrzehnten musste sie es auf Druck der USA zunehmend aufweichen und schliesslich ganz aufgeben. Der Finanzplatz konnte sich damit nur schwer abfinden, was zum Untergang der Credit Suisse und ihrer staatlich verordneten Übernahme durch die UBS führte.
Mit dem Bankgeheimnis brach den Grossbanken das lukrative Geschäft mit der Steuerflucht weg. Sie reagierten unterschiedlich darauf. Die UBS konzentrierte sich nach ihrem Beinahe-Kollaps während der Finanzkrise 2008 auf die Vermögensverwaltung. Die CS kam damals einigermassen ungeschoren davon und entwickelte eine Art Grössenwahn.
Sie ging mehr Risiken ein als die Konkurrenz, und das nicht nur im Investmentbanking. Offenbar nahm sie Kunden an, von denen andere Banken die Finger liessen. Die CS habe sich zu abhängig gemacht von Milliardären, schrieb der ehemalige Kadermann Dan Davies in der «Washington Post»:
Wer jedoch auf das schnelle Geld aus ist, ist meist schnell weg, wenn es Probleme gibt. Allein zwischen Oktober und Dezember letzten Jahres wurden bei der Credit Suisse gemäss der Finanzmarktaufsicht Finma 138 Milliarden Franken abgezogen. Einen weiteren «Bankrun» gab es im März, nachdem zwei US-Banken die Bilanz deponieren mussten.
Nun sieht sich die Schweiz mit dem unrühmlichen «Rekord» konfrontiert, dass in den letzten 15 Jahren gleich zwei systemrelevante Banken vom Staat gerettet werden mussten. Es ist offensichtlich: Auch auf dem Finanzplatz Schweiz haben zu viele in der Vergangenheit gelebt, in der «goldenen Zeit» des Bankgeheimnis, die sie unbedingt bewahren wollten.
Nun fragt man sich, ob es mit der neuen «Monster-UBS» gut kommt. Mit nur noch einer Grossbank macht sich die Schweiz erst recht angreifbar. Und wenn der alt-neue CEO Sergio Ermotti findet, die Bank könne gar nicht gross genug sein, muss man zumindest die Stirne runzeln. Denn mit der Grösse steigt auch das Risiko, dass es zu Fehlverhalten kommt.
In diesem Fall wäre unweigerlich erneut der Staat gefordert, denn ein Verkauf an einen ausländischen Giganten in den USA oder womöglich China kommt kaum infrage. Damit ergibt sich ein weiteres Problem, das zurück zum Ukraine-Krieg führt. Es geht um die Konfiszierung russischer Vermögenswerte für den Wiederaufbau der Ukraine.
Der Bundesrat will davon mit Verweis auf die Rechtsstaatlichkeit nichts wissen, doch mit der Bankenfusion hat er seinen Kritiker einen Steilpass zugespielt:
Viele in der Schweiz leben im Irrglauben, wir müssten uns nur klein genug machen, dann komme es schon gut. Die Neutralitätsdebatte und die Bankenkrise zeigen, dass diese Masche nicht mehr zieht. Es lohnt sich eben nicht, in der Vergangenheit zu leben und sich an vermeintlich Bewährtes zu klammern. Irgendwann folgt der Realitätscheck.
Wir sind ein Land von „das war schon immer so“ (auch wenn dieses „immer“ maximal 175 Jahre alt ist).
Wir sind Spezialisten von komplizierten Sonderwegen. Weil alle anderen sind ja eh zu blöd…
Und wir sind super darin, uns selbst als die Besten zu sehen (meist sind wir’s aber dann doch nicht).
Wir reiten das lahmste Pferd weiter. Notfalls prügeln wir es mit Geld noch etwas weiter. Es darf nicht sein, was nicht sein darf.
Anstatt - sorry - den Gnadenschuss zu geben und uns um ein neues Pferd zu kümmern.
Eine neu Justierung der Neutralität, wie von Bundesrat Cassis vorgeschlagen, wurde von der Bundesrat Mehrheit ignoriert.
Das zeigt einmal mehr, dass der Bundesrat ein rückwärts gewandtes Gremium ist, das nicht in der Lage scheint, kommende Probleme zu antizipieren.
Zu zögerlich, zu spät bei der Ukraine Hilfe.
Man will sich nicht der Nato annähern und kooperieren, aber sich de facto von ihr beschützen lassen. Auch bezüglich Dekarbonisierung der Wirtschaft sind wir wegen diesem Bundesrat, der nicht vorangeht im Hintertreffen.
Die Schweiz zum fremdschämen