Samstagabend, kurz nach 18 Uhr, auf dem Stierliberg ob Birmensdorf (ZH) nahe der Grenze zum Kanton Aargau: Es ist stockdunkel, die Temperaturen sinken gegen den Nullpunkt. Nur der Mond, der sich als schlanke Sichel über den Baumwipfeln zeigt, vermag etwas Licht zu spenden. Auf dem Gelände ist es minutenlang still, nichts regt sich.
Plötzlich schleicht ein Dutzend Männer in Tarnanzügen schnellen Schrittes über die Dorfstrasse, das Gewehr nah an der Brust, die Finger lang. Sie bringen sich vor dem Eingang eines dreistöckigen Hauses in Stellung, kontrollieren die Umgebung. Die Luft scheint rein. Nacheinander drängen die bewaffneten Männer ins Haus. Ein Schuss ertönt, es ist vorbei mit der nächtlichen Stille. Zuerst Geschrei – «Nachrücken!», «Auf den Boden!», «Hände auf den Rücken!». Dann Gepolter und noch ein Schuss.
Derweil verstärkt in der Ferne ein stetes Brummen die Geräuschkulisse. Bald werden auf dem Gelände die Panzer eintreffen. Einer der Piranhas wird an diesem Abend für einen Schockmoment sorgen, der den Insassen bis heute in den Knochen sitzen dürfte. Doch dazu später mehr.
Was sich an diesem Samstagabend auf dem Stierliberg abspielt, ist von langer Hand geplant. Das Training mit über 100 Beteiligten ist Teil der Verbandsübung «Pilum 22». Mit dieser will die Armee herausfinden, wie gut ihre Truppen für den Ernstfall vorbereitet sind. Können sie Land und Leute in einem bewaffneten Konflikt am Boden verteidigen? Wie arbeiten die verschiedenen Einheiten miteinander zusammen? Und funktioniert das in einem Miliz-Militär, wie es die Schweiz kennt?
Auf diese Fragen will Thomas Ineichen an diesem Abend Antworten erhalten. Der Oberst zeichnet verantwortlich für die Übung, an der eine Gebirgsinfanteriekompanie – unterstützt durch einen Panzerzug – sowie Angehörige des Kommandos Spezialkräfte beteiligt sind. Sie alle sind erst vor wenigen Tagen in den ordentlichen Wiederholungskurs eingerückt, es sind also «Milizler», wie es im Fachjargon heisst.
Sie alle kennen das Szenario: In einem nördlich der Schweiz gelegenen Land läuft ein bewaffneter Konflikt, die Schweiz ist davon indirekt betroffen. Der Bundesrat hat bereits eine Mobilmachung angeordnet. Denn: Erste Gegner haben sich schon in der Schweiz eingenistet. Eine der Schlüsselpersonen – ein sogenanntes High-Value-Target – lebt in einem Haus auf dem Stierliberg.
Die Aufklärer haben den «Warlord vom Säuliamt», wie es ein leitender Anwesender ausdrückt, schon seit einigen Tagen beobachtet, sie kennen seinen Tagesablauf und wissen, wann er sich wo aufhält. Das Ziel: Die Einsatzkräfte sollen den Mann lebend gefangen nehmen und zur Befragung an die Polizei ausliefern. Dabei dürfen keine Zivilisten verletzt werden.
So weit die Theorie. In der Praxis handelt es sich beim Schauplatz nicht um ein gewöhnliches Dorf, sondern um die Militäranlage Stierliberg, ein eigens für Trainingszwecke errichtetes Gelände mit Häusern, Ruinen und geteerten Strassen. Die Rolle des verfeindeten Gegners bekleiden die Soldaten der Durchdiener-Rekrutenschule in Birmensdorf. Und anstelle echter Geschosse verwenden die Beteiligten Simulationsmunition.
Die Panzer allerdings, die sich langsam dem Gelände nähern, sind echt. Ein erster Kodiak-Panzer kündigt sich durch die kreisrunden Scheinwerfer an, die schon von weitem zu sehen sind. Er befreit die Strasse von Hindernissen, wendet und verschwindet dann wieder in der Dunkelheit.
Kurz darauf brettern drei Piranhas aufs Dorf zu. Und dann, der Schockmoment: Der erste Panzer der Kolonne gerät von der Strasse ab und rutscht seitlich in eine mehrere Meter tiefe Grube, bis er in schräger Lage zum Stillstand kommt. Übungsleiter Ineichen stockt der Atem, die weissen Wölkchen, die bei den kalten Temperaturen das Sprechen und Atmen sichtbar machen, verschwinden für einen Moment. Er rennt zum Piranha, ruft nach den Insassen, fragt, wie es ihnen geht, bittet sie auszusteigen.
«Ich habe in diesem Moment überlegt, die Übung abzubrechen», wird Ineichen später sagen. «Doch weil alle gesund waren und wir anhand des Winkels einschätzen konnten, dass der Panzer nicht kippt, haben wir entschieden, die Übung weiterzuführen.» Das sei richtig gewesen, befindet denn auch der Kommandant des Heeres, Divisionär René Wellinger. «Genau solche menschlichen Fehleinschätzungen können auch im Ernstfall passieren, deshalb müssen wir den Umgang mit solchen Situationen üben», sagt Wellinger, der die gesamte Verbandsübung leitet und seit fünf Tagen im Dauereinsatz steht.
Es geht also weiter. Aus dem Haus, in dem sich die Zielperson befindet, sind immer wieder Schüsse zu hören. Und auch im Gebäude nebenan ist ein Schusswechsel im Gang. Anscheinend befinden sich im Dorf weitere Gegner, die mit allen Kräften verhindern wollen, dass ihr Anführer an die Polizei ausgeliefert wird. Gedeckt durch einen Piranha-Panzer bereiten derweil die Infanteristen alles dafür vor, den Mann via Balkon aus dem Haus und anschliessend in den Panzer zu hieven. Sie durchschneiden Stacheldrähte, bilden einen Korridor und suchen mit ihren Gewehren die umliegenden Häuser nach gegnerischen Kräften ab.
Unterdessen haben die Grenadiere den Übeltäter gefunden, sie binden ihm mit zwei Kabelbindern die Hände zusammen und wuchten ihn über die Balkonkante, von wo aus ihn die Infanteristen zügig in den Panzer verfrachten. Der Plan gelingt, doch die Freude über den Erfolg währt nur kurz, die Unaufmerksamkeit der Bodentruppe rächt sich: Im Schatten des Gefechts haben sich zwei Gegner hinter den Hausecken in Stellung gebracht. Als sie zu schiessen beginnen, kehrt der Instinkt der Infanteristen zurück. Sie ballern retour und bringen den Angriff innert Kürze unter Kontrolle.
Nachdem auch im Haus nebenan die feindlichen Kräfte klein beigeben mussten, kehrt wieder Ruhe ein auf dem Stierliberg. Die Truppen ziehen ab und auch das Dröhnen der Panzer ist bald nicht mehr zu hören. Über dem Gelände breitet sich Rauch aus, der Geruch verfeuerter Munition legt sich auf die Kleidung. So plötzlich der Einsatz begonnen hat, so schnell ist er auch wieder vorbei. Als Zuschauer kommt man sich bisweilen vor, als befände man sich in einem Film.
So ähnlich hat es sich auch für die Beteiligten angefühlt, wie ein Infanterist nach der Übung erzählt: «Für uns ist es schon sehr cool, wenn wir solche Übungen machen können. Das ist um einiges spannender, als wenn wir die Einsätze nur im Theorieraum durchspielen.» Klar, es gebe Schöneres, als am Samstagabend bei Temperaturen um den Gefrierpunkt draussen ausharren zu müssen, aber bei dieser Übung sehe man «zumindest einen Sinn dahinter», meint ein anderer.
Obschon der Einsatz mit dem Abschuss zweier rot leuchtender Feuerwerkskörper bereits offiziell beendet wurde, haben sich die Soldaten den Feierabend noch nicht verdient. Im Anschluss an den Einsatz rapportieren die sogenannten Schiedsrichter an Übungsleiter Ineichen. Dieser wiederum bespricht im Anschluss mit den Soldaten, was gut lief, wo es Probleme gab und wie solche hätten verhindert werden können. In einem Halbkreis formiert lauschen die Infanteristen mehr oder weniger aufmerksam den Einschätzungen Ineichens.
Dieser ist grundsätzlich zufrieden: «Die Einsatzkräfte haben sehr gut zusammengearbeitet, die Geschwindigkeit hat gepasst.» Es sei auch immer wieder «eindrücklich zu sehen, wie die Milizsoldaten nach nur wenigen Tagen zurück im Dienst funktionieren, als hätten sie nie etwas anderes gemacht». Doch es wäre wohl kein gutes Zeichen, wenn es nicht auch etwas zu verbessern gäbe. Bereitschaft und Konzentration hätten mit der Zeit abgenommen und zu unnötigen Fehlern geführt, konstatiert Ineichen. Das könne im Ernstfall verheerende Folgen haben.
Von direkten Konsequenzen bleiben die Soldaten an diesem Samstagabend verschont. Gegen neun Uhr erhalten sie endlich eine wärmende Mahlzeit. Sie nehmen sie draussen im Stehen oder auf eiskalten Steinen sitzend zu sich. (cpf)
Habe ich zuerst gelesen.