«Sind Sie schwul, oder was?», fragt ein Vorgesetzter einen Rekruten nach einer mässigen Leistung. «Ja, klar, warum?», antwortet der Angesprochene. Immerhin: Der Vorgesetzte entschuldigt sich für seinen verbalen Missgriff. Allerdings: Sprüche über homosexuelle Armeeangehörige werden in der Schweizer Armee auch noch im Jahr 2021 geklopft.
Erzählt hat die Episode ein Rekrut bei einem speziellen Tag: Am 2. September setzten die QueerOfficers Switzerland, der Verein homo- und bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Angehörigen der Schweizer Armee, beim Ausbildungszentrum der Armee in Luzern den «Baum der Vielfalt». Die Vielfalt, so die Idee, soll wachsen wie ein Baum. Diese Vielfalt, betonte Armeechef Thomas Süssli am Anlass, müsse die Armee noch mehr erkennen. Diskriminierung und Übergriffe lasse er keine zu:
Es ist noch gar nicht allzu lange her, da hatten nicht-heterosexuelle Menschen in der Gesellschaft und auch in der Armee einen deutlich schwereren Stand als heute. Noch vor 50 Jahren galt eine «abnorme sexuelle Veranlagung», zum Beispiel Homosexualität, als Grund für Dienstuntauglichkeit. Erst seit 1992 ist einvernehmlicher Sex zwischen Armeeangehörigen im Militärgesetz nicht mehr verboten.
«Homosexuelle waren in der Armee nicht willkommen», erinnert sich Rolf Stürm. Der 71-jährige Hauptmann ausser Dienst und Mitglied der QueerOfficers präsentierte beim Anlass in Luzern Müsterchen aus seiner Zeit als Kompaniekommandant bei den Sanitätern in den 1970er- und 1980er-Jahren. Stürm, ausgebildeter Arzt und selber homosexuell, erhielt jeweils Listen mit Angaben zu Armeeangehörigen, die von der Rekrutenschule oder einer anderen Einheit neu seiner Truppe zugeteilt wurden.
Auf der sogenannten «Korpskontrolle» fand sich bei Schwulen ein mit Bleistift hingekritzelter Vermerk: «HS» für homosexuell. Wer genau die sexuelle Orientierung fichierte, kann Stürm nicht sagen. In Frage kämen etwa Kompaniekommandanten oder für die Ausbildung zuständige Berufsmilitärs. Ob die Personen mit dem Etikett «HS» deswegen diskriminiert und nicht befördert wurden, vermag Stürm nicht einzuschätzen.
Muss er auch nicht. Antworten auf diese Frage will jetzt Verteidigungsministerin Viola Amherd liefern. Sie will in einer wissenschaftlichen Analyse abklären lassen, welches Unrecht Homosexuelle in der Armee aufgrund ihrer sexuellen Orientierung in der Vergangenheit erlitten haben. Das geht aus einer Antwort des Bundesrats auf einen Vorstoss der Zürcher SP-Nationalrätin und Sicherheitspolitikerin Priska Seiler Graf hervor. Ein Sprecher des Verteidigungsdepartements sagt: «Bundesrätin Amherd und auch die Armee selber tolerieren keinerlei Diskriminierung.»
Einfach gestalten sich die Nachforschungen nicht. In der Regel werden Daten über Armeeangehörige wegen des Datenschutzes bloss bis fünf Jahre nach der Ausmusterung aus der Armee aufbewahrt. «Fälle von Diskriminierungen und insbesondere ?HS?-Einträge aus den früheren 1990er-Jahren und früher dürften daher kaum mehr eruierbar oder zumindest nicht repräsentativ erhebbar sein», schreibt der Bundesrat. Er rechnet damit, dass Forscher mehr als zwei Jahre benötigen, um den Bericht zu erstellen. Priska Seiler Graf schlägt vor, dass die Forscher den Sachverhalt auch dank direkten Gesprächen mit Betroffenen, ehemaligen Kommandanten oder Vertretern rekonstruieren sollen.
Für Seiler Graf ist klar:
Selbst nach 1992 habe es noch vereinzelte HS-Einträge gegeben. Die Sozialdemokratin verweist zudem auf unbestätigte Hinweise auf schwarze Listen, um Schwulen den Aufstieg in der militärischen Hierarchie zu verwehren. Der Bund soll geeignete Formen der Wiedergutmachung prüfen, schlägt sie vor. Sie kann sich etwa eine Praxis des kollektiven Erinnerns, eine Entschuldigung durch den Bundesrat oder in besonders krassen Fällen eine finanzielle Entschädigung vorstellen.
Er sagte seiner Mannschaft, er gehe nicht zum Blutspenden, weil er schwul sei. Wer, wie er wegen des Generalverdachts auf HIV-Kontamination, nicht Blut spenden dürfe oder aus einem anderen Grund nicht wolle, könne mit ihm nach der Mittagspause einen Ersatzmarsch absolvieren. Fast die halbe Kompanie schnürte die Marschschuhe und den Rucksack anstatt den Arm zum Blutabzapfen hinzuhalten. Die schlechte Blutspendenquote seiner Kompanie bescherte Stürm eine schlechte Qualifikation.
maylander
Sich als schwul auszugeben war eine sichere Methode, dass dieser Kelch an einem vorüberging.